Susann Kaufhold-Beyer erinnert sich an ihre abenteuerliche Flucht. Foto: Piontkowski Susann Kaufhold-Beyer erinnert sich. Foto: Piontkowski
Erinnerungen

Im Kofferraum über die Grenze

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Es gibt bequemere Arten zu reisen als im Kofferraum eines 5er BMW. Zsuzsanna Vereb erzählt ihre Geschichte.

1973 war der eiserne Vorhang, der den Osten Europas vom Westen abschottete, noch geschlossen. Die Ungarin Zsuzsanna Vereb sah keine andere Möglichkeit, als im Kofferraum ihres damaligen Freundes und späteren Ehemannes nach Deutschland zu flüchten. Heute wohnt Zsuzsanna Vereb, die inzwischen Kaufhold-Beyer heißt und ihren Vornamen in Susann abgekürzt hat, in Borgfeld. Bei einem Glas Wein erzählt sie ihre ungewöhnliche Geschichte.

Alles begann an ihrem 26. Geburtstag, am 6. Oktober 1972. Zsuzsanna Vereb feierte mit ihrer Freundin in der Coca-Cola-Bar des Budapest-Hotels in der ungarischen Hauptstadt. „Nach zwei Getränken war unser Geld bereits alle“, berichtet sie. Sie habe damals für ihre Arbeit als Physiotherapeutin in einem Budapester Reha-Zentrum 1.300 Forint im Monat bekommen.

Erst Cola-Cognac – dann ein Tanz

Damit sei sie so gerade ausgekommen, große Sprünge seien nicht drin gewesen. Als die beiden Freundinnen schon dachten, die Party sei vorüber, gesellten sich Harald Kaufhold und dessen Kollegen zu ihnen. Der Zevener hatte mit seinen Geschäftsfreunden eine viertägige Reise nach Ungarn gewonnen, als Anerkennung für gute Arbeit.

„Sie gaben uns eine Cola-Cognac aus“, erinnert sich Susann Kaufhold-Beyer. Dann habe er sie zum Tanzen aufgefordert. Aus einem Tanz wurde eine durchfeierte Nacht. Auch wenn Kaufhold-Beyer damals noch kaum ein Wort Deutsch sprach, verstanden beide sich auf Anhieb.

Doch die Geschichte nahm eine jähe Wendung, als Harald Kaufhold seiner neuen Freundin um vier Uhr morgens zum Abschied sein zu viel umgetauschtes ungarisches Geld in die Hand drückte. In ihrem Stolz verletzt warf die junge Ungarin ihm das Geld entgegen und sprang aus dem Taxi.

Alle Krankenhäuser angerufen

„Er wusste nichts von mir, nur meinen Namen und dass ich als Krankengymnastin in einem Krankenhaus arbeite“. Harald Kaufhold aber war so fasziniert von der jungen Frau, dass er alles daran setzte, sie ausfindig zu machen. Über die Rezeption seines Hotels ließ er alle Krankenhäuser in Budapest anrufen. „Mittags stand er dann plötzlich an der Rezeption unseres Reha-Zentrums“, erinnert sich die heutige Borgfelderin.

Er lud sie ins schicke Gellert-Hotel zum Mittagessen ein, die Missverständnisse wurden mit Händen und Füßen aufgeklärt. Zurück in Deutschland schrieb Harald seiner Susann täglich Briefe und rief sie an ihrer Arbeitsstelle an. „Nur dort konnten wir telefonieren, weil ich zu Hause keinen Anschluss hatte“, erinnert sie sich.

Unter dem Vorwand, zu einer Hochzeit eingeladen zu sein, kehrte Harald Kaufhold nach Budapest zurück. „Wir mussten das Treffen tarnen, damit die ungarischen Behörden nicht aufmerksam werden“, erläutert Susann Kaufhold-Beyer.

Im Visier des Geheimdienstes

Bis Februar 1973 trafen sich beide weitere sechs Male in Ungarn. Da sie als Budapesterin damals in ihrer Heimatstadt nicht in einem Hotel übernachten durfte und ein Treffen in ihrem gemieteten Zimmer nicht möglich war, setzten sich beide in ein Taxi und fuhren in das 60 Kilometer entfernte Székesféhévár. Längst war der ungarische Geheimdienst auf das junge Paar aufmerksam geworden.

Immer war es derselbe Taxifahrer, der beide vom Flughafen in das Hotel in Székesféhévár fuhr. „Das war ein Spion“, ist Kaufhold-Beyer heute überzeugt. Der Taxifahrer habe sie sogar angerufen und gefragt, wann ihr Freund wiederkomme.

Harald Kaufhold wurde aufgrund der Überwachung bei den Besuchen zunehmend mulmiger. „Nicht nur unsere Briefe wurden kontrolliert, auch der Telefonverkehr wurde überwacht“, weiß die Physiotherapeutin heute. Harald Kaufhold kam weniger und wollte dann überhaupt nicht mehr kommen.

Unerträglich für die junge Frau, die sich inzwischen in ihren deutschen Freund verliebt hatte. Sie wollte ein letztes Treffen. Da Ungarn ein heißes Pflaster geworden war, entschied sie sich zu einer Reise nach Jugoslawien. „Das ging damals, während Reisen in den Westen nicht möglich waren“, erinnert sie sich.

Spion an den Hacken

Für fünf Tage fuhr Susann Kaufhold-Beyer über Pfingsten 1973 mit einer Reisegruppe nach Lovran in Jugoslawien. „Die Reise wurde auch nur genehmigt, weil ich danach noch eine Reise nach Moskau gebucht und auch angezahlt hatte“, sagt sie.

Damit habe sie ihren Rückkehrwillen nach Ungarn deutlich gemacht. Ihrem Harald teilte sie die Reisedaten schriftlich über Umwege mit. „Ich war inzwischen vorsichtig geworden und habe den Brief belgischen Bekannten eines Patienten von mir mitgegeben“, berichtet sie. Von Belgien sei der Brief dann nach Deutschland geschickt worden.

„Harald rief mich an und sagte, entweder kommt er direkt zu meinem Hotel in Jugoslawien oder er ruft mich um 9 Uhr an“, erinnert sie sich. So war es denn auch nicht erstaunlich, dass sich bei ihrer Ankunft im Hotel Danica in Lovran sofort ein Spion an ihre Fersen heftete. Noch bevor Harald Kaufhold anreiste, bot der Spion sich als Kofferträger an und lud Susann Kaufhold-Beyer zu einem Ausflug ein.

„Ich war damals naiv, freute mich über den Kavalier und dachte nicht, dass er ein Spion sein könnte“, blickt die Borgelderin zurück. Sie erzählte ihm von ihrem deutschen Freund. Geschickt lenkte der Mann das Gespräch auf eine mögliche Ausreise und bat sie, ihm mitzuteilen, wann ihr Freund komme.

Den Zimmerschlüssel hat sie noch heute

Nach dem Eintreffen von Harald Kaufhold kam es tatsächlich zu einem Treffen mit dem „freundlichen Helfer“. Harald Kaufhold übergab ihm ein Passbild seiner Freundin, damit dieser – wie er anbot – einen falschen Pass besorgen konnte. Zur geplanten Übergabe des gefälschten Passes um Mitternacht in einer Disco erschien der Mann jedoch nicht.

Der Schlüssel zu Zimmer Nummer 19.

Der Schlüssel zu Zimmer Nummer 19.

„Da war uns klar, dass wir auf einen Spion reingefallen waren“, sagt Kaufhold-Beyer. „Wenn ich nach Ungarn zurückgekehrt wäre, wäre ich im Gefängnis gelandet“. Schnelle Entscheidungen waren gefragt. Für Mitternacht war die Flucht geplant. Susann Kaufhold-Beyer ging in ihr Hotelzimmer, packte eine Zahnbürste und einmal Wäsche zum Wechseln ein und verschwand.

„Den Zimmerschlüssel für Zimmer Nummer 19 habe ich noch heute“, sagt sie. Susann Kaufhold-Beyer stieg zu ihrem Harald in seinen taubenblau-metallic-farbenen 5er BMW. Kurz vor der jugoslawisch-italienischen Grenze wechselte sie vom Beifahrersitz in den Kofferraum.

An der Grenze schlug ihr Puls höher, als sie aus dem Kofferraum heraus laute Schreierei hörte und der blaue BMW immer vor und zurück fuhr. „Da dachte ich schon, das war’s jetzt“. Hinterher stellte sich raus, dass die italienischen Grenzer Harald Kaufhold angehalten hatten, weil er die Grenze in der Anspannung ohne Vorzeigen des Passes überqueren wollte.

Nach einer Nacht in einem Motel in Italien wurde es an der italienisch-österreichischen Grenze noch einmal spannend. „Der Wagen vor uns musste den Kofferraum öffnen“, berichtet Kaufhold-Beyer. Ihr BMW sei aber ohne Kontrolle durchgewunken worden.

Ein neues Leben in Zeven begonnen

Schon nach sechs Wochen in Zeven fand Susann Kaufhold-Beyer eine Arbeitsstelle als Physiotherapeutin in einem Zevener Krankenhaus. „Deutsch habe ich dann quasi durch meine Patienten gelernt“, erinnert sie sich. 1976 machte Kaufhold-Beyer sich als 30-Jährige mit einer eigenen Praxis und drei Angestellten selbstständig. Ihren Harald hat sie zwei Jahre später geheiratet.

„Das war zunächst gar nicht so einfach, da ich keinen Pass hatte und mir aufgrund der Flucht auch keinen in Ungarn besorgen konnte“, blickt sie zurück. Der deutsche Verfassungsschutz, der alles über die deutsch-ungarische Liebesgeschichte wusste, habe das Problem dann gelöst. Als 1983 Sohn Gabor zur Welt kam, war das junge Glück perfekt.

Erst nach 16 Jahren, am 9. November 1989, fuhr sie erstmals wieder nach Ungarn, zum 80. Geburtstag ihrer Mutter. „Dass an dem Tag die Mauer fiel, haben wir erst aus dem Fernsehen erfahren“, sagt sie.

Seitdem ist sie jedes Jahr in ihre alte Heimat gefahren. Nach dem Tod ihres Mannes zog sie 2013 nach Borgfeld, wo sie inzwischen in zweiter Ehe mit dem Unternehmensberater Peter Beyer verheiratet ist.

Text und Fotos: Gabi Piontkowski

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