Der Jurist Ingo Schierenbeck ist seit 2010 Hauptgeschäftsführer der Arbeitnehmerkammer. Zum Oktober plant er eine Ausstellung zum 100-jährigen Jubiläum.Foto: Schlie Der Jurist Ingo Schierenbeck ist seit 2010 Hauptgeschäftsführer der Arbeitnehmerkammer. Zum Oktober plant er eine Ausstellung zum 100-jährigen Jubiläum. Foto: Schlie
Wirtschaft

„In Zukunft offensiver“

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Im Interview: Arbeitnehmerkammer-Chef Ingo Schierenbeck zu wilden Zeiten und neuen Plänen.

Weser Report: Herr Schierenbeck, in Deutschland, insbesondere auch in Bremen, herrschte eine aufgebrachte Stimmung, als der Senat vor 100 Jahren die Arbeitnehmerkammer gründete. Erst zwei Jahre zuvor, 1919, war die Bremer Räterepublik ausgerufen und einen Monat später niedergeschlagen worden. War die Gründung der Arbeitnehmerkammer nur ein Akt, die Arbeiter zu beruhigen?

Ingo Schierenbeck: Es war eine revolutionäre Zeit damals. Den Gedanken, eine Arbeitnehmerkammer zu gründen, gab es schon vorher. Aber dann war der Druck der Straße zu groß, sodass die Politik den Arbeitnehmern eine Interessenvertretung geben musste.

Vieles von dem, was die Arbeitnehmerkammer damals gefordert hat, ist heute selbstverständlich. Warum braucht Bremen solch eine Einrichtung noch?

Die Ansprüche und Interessen der Arbeitnehmer ändern sich. Während es zur Zeit der Industrialisierung vor allem um den Arbeitsschutz ging, um die Sicherstellung der Lohnzahlung, um soziale Absicherung, stehen heute andere Themen im Mittelpunkt wie zum Beispiel ein ausreichender Mindestlohn, die physische und psychische Belastung am Arbeitsplatz, die Spaltung am Arbeitsplatz in Beschäftigte mit Tarifvertrag und Betriebsrat und in solche ohne. Aufgabe der Kammer ist es, dass diese Probleme bekannt werden und etwas dagegen unternommen wird.

In Bremen geht es den Beschäftigten besser als in fast allen anderen Bundesländern? Denn außer Bremen hat nur das Saarland eine Arbeitnehmerkammer.

Gewerkschaften und Kammer sind Partner auf der Arbeitnehmerseite. Zusammen können sie den Interessen der Beschäftigten eine stärkere politische Bedeutung geben als alleine.

Gewerkschaften nehmen auch Einfluss auf die Politik.

Das stimmt, aber sie konzentrieren sich darauf, über Tarifverträge Löhne und Arbeitsbedingungen zu gestalten. Aufgabe der Arbeitnehmerkammer ist es, Politik und Verwaltung über die Situation der Arbeitnehmer zu informieren und darüber politische Veränderungen zu erzielen. Außerdem sind wir dem Gemeinwohl verpflichtet.

Das heißt, sie berücksichtigen auch die Interessen der Unternehmer?

Die haben eine eigene Interessenvertretung: die Handwerkskammern und die Industrie- und Handelskammern. Aber wenn wir die Interessen der Beschäftigten formulieren, müssen wir auch immer darauf achten, wie das mit dem Gemeinwohl in Einklang zu bringen ist.

Trotz Arbeitnehmerkammer entwickelt sich der Arbeitsmarkt in Bremen schlechter als in den meisten anderen Bundesländern.

Arbeitsplätze können wir nicht schaffen. Wir können aber darauf hinweisen, warum die Arbeitslosigkeit in Bremen höher ist als in den anderen Bundesländern. Ein Grund ist, dass in Bremen sehr viele Menschen keinen Berufsabschluss haben.

Obwohl die Betriebe doch verzweifelt Auszubildende suchen?

Laut dem Bundesinstitut für berufliche Bildung gab es Ende 2020 in Bremen gut 300 offene Ausbildungsplätze und 1.000 ausbildung­suchende Jugendliche ohne Ausbildungsplatz.

Warum finden die Unternehmen dann nicht genügend Bewerber?

Zum Teil sind ihre Ansprüche an die Bewerber sehr hoch. Dann gibt es relativ unattraktive Ausbildungsplätze und solche mit schlechten Arbeitsbedingungen. Es geht darum, die Situation auf dem Ausbildungsmarkt insgesamt zu verbessern, dazu gehört auch die Berufsorientierung.

Die fiel wegen Corona häufig aus.

Im Jahr 2020 wurden im Land Bremen so wenig Ausbildungsverträge abgeschlossen wie seit 1980 nicht mehr. Wir haben uns dafür eingesetzt, dass das Land Bremen zusätzliche Ausbildungsplätze zur Verfügung stellt.

Wie verändert Corona die Arbeit der Kammer?

Wir haben im letzten Jahr über 100.000 Beratungen gemacht, so viele wie noch nie, davon fast 60.000 zu den Themen Arbeitsvertrag, Arbeitsrecht und Arbeitsverhältnis. Beschäftigte und Unternehmen standen vor einer völlig neuen Situation.

Hat die Kammer mehr Mitarbeiter eingestellt?

Wir investieren rund fünf Millionen Euro in die Sanierung und Erweiterung unseres Gebäudes in der City. Nachfragestarke Bereiche wie unter anderem die Rechtsberatung und die Steuerberatung können wir dann ausbauen. Jetzt haben wir gut 140 Mitarbeiter, aber dann Kapazität für weitere Beschäftigte.

Die Bremer Arbeitnehmer zahlen 0,15 Prozent ihres Gehalts an die Kammer. Das sinkt bei Kurzarbeit. Sind deshalb auch die Einnahmen der Kammer in der Corona-Krise gesunken?

Im Vor-Corona-Jahr 2019 hatten wir 18,7 Millionen Euro an Beiträgen erhalten, 2020 nur 18,1 Millionen Euro. Der Ausbau ist aber nicht gefährdet.

Ist die Gründung von Arbeitnehmerkammern in anderen Bundesländern überhaupt noch ein Thema?

In Brandenburg gab es eine Diskussion, in Nordrhein-Westfalen gab es eine Initiative der SPD dazu, in Thüringen gibt es im Moment eine. Es ist vielleicht erforderlich, dass wir in Berlin einmal darauf hinweisen, was eine Arbeitnehmerkammer tut. Das wollen wir in Zukunft offensiver machen.

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