Bruno Arthur Emil Kirstein, geboren 1908, ermordet in Wehnen am 5. Oktober 1941 nach nicht einmal zwei Monaten Aufenthalt dort. Quelle der Krankenakte: Gedenkstätte Wehnen
Stadthistorie

Opfer der oldenburgischen NS-Euthanasieverbrechen

Von
Fünf von 144 Delmenhorster Euthanasie-Opfern sind nun sichtbar geworden. Sie starben in Wehnen.

Helga Jacob wird im Januar 1939 geboren und erkrankt als Baby schwer. Im Delmenhorster Krankenhaus verweigert man ihr die notwendige Betreuung und Behandlung für ihre Behinderung. Stattdessen wird sie – kurz vor ihrem dritten Geburtstag – im November 1941 in die „Heil- und Pflegeanstalt Wehnen“ eingewiesen. Dort stirbt sie am 21. Mai 1943 im Alter von vier Jahren. Hinter ihr liegen 18 Monate der Vernachlässigung, Unterversorgung und Einsamkeit.

Helga Jacob stirbt im Alter von vier Jahren

Für die Anstalt sind Patienten wie Helga Jacob ein profitables Geschäft. Dort bereichert man sich weiter an den Pflegegeldern, die in voller Höhe fließen. Die Ausgaben kürzt man dagegen, indem man die Lebensmittelrationen reduziert und „teure, hochwertige“ Lebensmittel wie Fleisch, Fett, Zucker und Eier durch preiswertere wie Brot, Mehl und Nährmittel ersetzt.

Helga Jacob wird in Wehnen gezielt ermordet, weil die faschistische Ideologie ihr als behindertem Menschen jede Lebensberechtigung abspricht und ihr eine angemessene Unterstützung und Pflege verwehrt.

Helga Jacob ist nur eines von 144 Delmenhorster Opfern. Insgesamt starben in der „Heil- und Pflegeanstalt Wehnen“ mehr als 1.500 Patienten. Zu ihren gehören auch Bewohner des Albertushofes.

Stolpersteine erinnern an Bruno Kirstein und Alfred Kirstein

Bruno Arthur Emil Kirstein wird 1908, Alfred Willy Kirstein 1925 geboren. Über ihr Leben ist wenig bekannt. Unbekannt ist, wann und warum sie aus Kaliningrad, damals genannt Königsberg, und aus Poznan, damals genannt Posen, nach Delmenhorst kommen. Ihren Krankenakten aus Wehnen sind diskriminierende, verachtende Zuschreibungen ihrer geistigen Verfassung zu entnehmen. Bruno Kirstein stirbt am 5. Oktober 1941 in Wehnen – nach nicht einmal zwei Monaten Aufenthalt. Das Leben von Alfred Kirstein endet nach nur zwei Tagen in Wehnen. Er wird nur 17 Jahre alt.

„Wenn wir Bruno Kirstein und Alfred Kirstein gedenken, so gilt dieses Gedenken auch ihren Leidensgenossen aus dem Albertushof“, betonte Caren Emmenecker vom Gedenkkreis Wehnen bei der Stolperstein-Verlegung. Das sind Ferry d’Orville (geboren 1908, gestorben 1942), Erika Goerke (1917 – 1944), Wilhelm Rickers (1897 – 1945) und Karl Schriefer (1908 – 1945). Sie wurden ebenfalls in Wehnen ermordet.

In diesem Brief bittet der Vater von Alfred Kirstein nach dessen Tod, um dessen Kleidung. Quelle: Gedenkstätte Wehnen

Erika Goerke wird nach Wehnen geschickt, weil die Pflegerinnen des Albertushofes nicht mit ihr fertig werden. Sie soll die Arbeit verweigert haben und zur Hauswirtschaft nicht zu gebrauchen sein. Ihre Pflegerin notiert: „Erika macht die größten Schwierigkeiten, keinen Moment kann man sie aus den Augen lassen. Um Lebensmittel zu stehlen, nutzt sie jede Gelegenheit raffiniert aus.“ Ebenfalls erhalten geblieben ist ein Brief, den der leitende Arzt in Wehnen an die Mutter von Erika Goerke schreibt: „Erika ist eine derartige Belastung, dass ich es bedauere, sie überhaupt aufgenommen zu haben, zumal ich dazu nicht verpflichtet war, da der Albertushof zur Provinz Hannover gehört.“ Fünf Monate später ist Erika Goerke tot.

In der Krankenakte findet sich kein Hinweis auf Hilfe

August Helmers, geboren am 10. August 1885, lebt mit seiner Frau am Hundertster Weg 6. Es gibt keinen Hinweis, was ihn im Sommer 1944 wohl aus dem Nichts so beunruhigt, dass Hilfe für ihn im Krankenhaus Delmenhorst gesucht wird. Obhut und Unterstützung versagt man ihm dort und weist ihn stattdessen in Wehnen ein.

Abbildung eines typischen Aktendeckels einer Krankenakte für männliche Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen. Beispielhaft für Ernst August Deharde, verstorben 1943 im Alter von acht Jahren. Quelle: Gedenkstätte Wehnen

In seiner Krankenakte findet sich keine Diagnose, kein einziger Hinweis darauf, dass ihm irgendwie geholfen wird. Die spärlichen Eintragungen lesen sich, als hätten die Ärzte stattdessen studiert, wie ein verzweifelter und verängstigter, neben sich stehender Mensch mit all seiner Energie um sein Leben ringt und kämpft und dabei alle Kraft verliert. Nur eine Woche nach seiner Einweisung stirbt August Helmers am 26. Mai 1944 durch Unterlassung, Erschöpfung und Unterversorgung.

Todesursache: Unterlassung, Erschöpfung und Unterversorgung

Elisabeth Erlbeck, geboren am 1. Mai 1909, lebt bei ihrem Bruder Johann Erlbeck und ihrer Schwägerin, die sich um sie kümmerten, in der Friedensstraße 6. Sie wird erstmals 1936 in Wehnen eingewiesen, dort entmündigt und zwangssterilisiert. Im Juli 1937 bittet ihr Bruder den Direktor von Wehnen in einem Brief, seine Schwester wieder nach Hause holen zu wollen. Er schreibt: „Sie will sich meinen Anordnungen fügen und recht ruhig und brav sein. Und da es einmal mein Wunsch ist, dass ich meine Schwester gern wieder bei mir hätte, so bitte ich Sie Herr Direktor meiner Schwester und meinen Wünschen zu entsprechen. Das Pflegegeld habe ich bis zum 1.8.1937 bezahlt.“

Die Krankenakte charakterisiert Elisabeth Erlbeck als fleißig bei Strickarbeiten, lenksam und zugänglich. Im verächtlichen und despektierlichen Duktus führen die Mediziner darüber hinaus Krankheits- und Verhaltensmerkmale auf, die ihre Tötung nach herrschender Doktrin legitimieren. Im Februar 1939 wird Elisabeth Erlbeck wieder in Wehen eingewiesen. Nur drei Wochen später, am 21. März 1939, ist sie tot.

Bis heute erhalten geblieben ist dieses Schreiben der Anstalt Wehnen von 1940, mit der Erklärung, dass hochwertige Nahrungsmittel eingespart und durch weniger nahrhafte ersetzt werden (dem Innenminister zur Kenntnisnahme). Quelle: Gedenkstätte Wehnen

Dass die und weitere Biografien mittlerweile bekannt sind, ist dem Engagement der Angehörigen der damaligen Patientinnen und Patienten zu verdanken. Los ging es 1997. Damals veröffentlichte Dr. Ingo Harms das Buch „Wat mööt wi hier smachten …“ – Hungertod und ‚Euthanasie‘ in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen im Dritten Reich“. Das war der Anstoß und damit der Beginn des Gedenkkreises Wehnen.

Gedenkstätte Wehnen

Im April 2004 wurde die Gedenkstätte Wehnen für die Opfer der oldenburgischen Krankenmorde eröffnet. Sie befindest sich auf dem Gelände der heutigen Karl-Jaspers-Klinik, Hermann-Ehlers-Straße 7, in Bad Zwischenahn (Wehnen). Die Ausstellung wendet sich an die interessierte Öffentlichkeit. Die Besucher können sich mit den Lebensgeschichten von Opfern und ihren Familien beschäftigen, finden Dokumente zu den Vorgängen in der Anstalt Wehnen zur Zeit der NS-Herrschaft und zur „Erbgesundheitsmedizin“ im Oldenburger Land und zum überregionalen Gesamtgeschehen der NS-„Euthanasie“. Darüber hinaus befindet sich dort eine Präsenzbibliothek zum Thema „Medizin im Nationalsozialismus“. Die Gedenkstätte ist dienstags bis freitags von 10 bis 16 Uhr sowie sonntags von 12 bis 16 Uhr geöffnet. Zusätzlich wird immer am letzten Freitag im Monat eine Führung angeboten. Die Veranstaltung dauert 90 bis 120 Minuten, die Teilnahme kostet 5 Euro pro Person. Info unter Telefon 0441/9 99 27 70 oder per E-Mail buero@gedenkkreis.de.

Alle weiteren Informationen zur Gedenkstätte und den Gedenkkreis findet man im Internet unter gedenkstaette-wehnen.de.

 

Auf dem Gelände des Albertushofes wurden am 21. Juni zwei Stolpersteine für Opfer für die NS-Euthanasieverbrechen verlegt. Foto: Martina I. Meyer

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren...

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner