Carsten Sieling auf dem SPD-Parteitag (Foto: Schlie) |
Der Bürgermeister ist am Freitag genau 100 Tage im Amt. Doch wie meistert er die ersten Herausforderungen? Von der Flüchtlingskrise, aber auch bis zu den schwierigen Verhandlungen zum Finanzausgleich reichen die großen Themen für die Hansestadt, bei denen Sieling sich bewähren muss. Dazu unser Pro & Contra Extra – mit höchst unterschiedlichen Bewertungen.
Große Erwartungen lasten auf Carsten Sieling, seit er das Amt des Bürgermeisters übernommen hat. Mit 46 Ja-Stimmen, 33 Nein-Stimmen und drei Enthaltungen schaffte er bei seiner Wahl vor fast 100 Tagen in der Bürgerschaft eine ordentliche Mehrheit.
Nach der Wahlschlappe der Sozialdemokraten, die bei der Bürgerschaftswahl nur noch 32,8 Prozent erringen konnten (minus 5,8 Prozent), übernahm Sieling das Amt von Jens Böhrnsen, der zurückgetreten war. Doch wie schlägt sich Sieling?
Innerhalb der SPD steht er für Erneuerung
Im Auftreten ist er populärer als sein Amtsvorgänger. Auch wenn er an die Beliebtheit von Henning Scherf schwer herankommen wird, mischt er sich lieber unters Volk als Böhrnsen es tat. Sieling konnte ebenso auf der Konferenz der Ministerpräsidenten punkten. Und innerhalb seiner eigenen Partei sehen die meisten Genossen in ihm die Erneuerung der SPD.
Doch es steht auch einiges auf der Soll-Seite. Die jüngste Schlappe, Bremens Enthaltung im Bundesrat beim Asylrechtskompromiss, nährte Zweifel an der Stabilität der rot-grünen Koalition. Und in der Frage der Unterbringung und Integration der Flüchtlingsströme schlägt sich Bremen zwar wacker, hier steht das Gröbste im Winter aber noch bevor.
Sieling kopierte das Hamburger Modell, leere Gewerbeflächen auch beschlagnahmen zu können. Die Nagelprobe könnte schon Anfang Dezember in Berlin bevorstehen, wenn endlich ein Durchbruch im Bund-Länder-Finanzausgleich kommen könnte.
Fünf führende Bremer Politiker bewerten die 100 Tage
Wir haben in unserer Rubrik „Pro und Contra“ fünf führende Bremer Politiker gefragt, wie die ersten 100 Tage von Carsten Sieling als Bürgermeister aus ihrer Sicht zu bewerten sind – mit höchst unterschiedlichen Antworten.
Pro: Es weht neuer Wind im Rathaus
Eine Schonzeit hatte Carsten Sieling nicht. Durch die Zuwanderung von Menschen, die in Bremen Schutz vor Verfolgung und Krieg suchen, arbeitete der Senat von Anfang im Krisenmodus: mit Sofortprogrammen für Unterkünfte, Notmaßnahmen sowie 300 zusätzlichen Stellen zur Bewältigung des Flüchtlingszuzugs.
Parallel dazu hat Sieling wichtige Entscheidungen getroffen: Es wird 200 zusätzliche Lehrkräfte an den Tafeln geben, die Grundlagen für die Zusammenlegung der Bereiche Kinder und Bildung wurden geschaffen und die Weichen für die Kooperation mit Niedersachsen sind gestellt. Auch das drängendste Problem hat „der Neue“ angepackt und zur Chefsache erklärt: Mittlerweile ist anerkannt, dass Bremen aufgrund der Altschulden zusätzliche Hilfe benötigt.
Jetzt gilt es in den Verhandlungen mit Bund und Ländern Bremens Situation zu verbessern. Dass dies nicht in 100 Tagen gelingt, war klar. Aber Sieling hat sein Versprechen eingelöst: Es weht neuer Wind im Rathaus.
Pro: Entscheidungsfreudiger und verlässlicher Bürgermeister
Ein Marathon, kein 100-Meter-Lauf. So beschrieb Carsten Sieling die zu bewältigenden Aufgaben. Diese Aufgaben haben es in sich. Es gilt zum Beispiel, Bremens finanzielle Situation zu verbessern. Dazu müssen wir die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzen vorantreiben.
Und es gilt, die vielen zu uns kommenden Flüchtlinge unterzubringen. Auch dies geht nur im Zusammenspiel mit dem Bund. Hierzu braucht es Menschen mit Erfahrung, Kompetenz und Ausdauer. Mit Carsten Sieling haben wir einen entscheidungsfreudigen und verlässlichen Bürgermeister, der gemeinsam mit unserer Bürgermeisterin und Finanzsenatorin Karoline Linnert, unserer Sozialsenatorin Anja Stahmann und unserem Bausenator Joachim Lohse in der Koalition verlässliche Entscheidungen trifft.
Rot-Grün hat in den letzten acht Jahren wichtige Weichenstellungen getroffen und in den ersten 100 Tagen nach der Wahl die Herausforderungen angenommen.
Contra: Stillstand und Uneinigkeit
Die SPD hat sich mit Carsten Sieling für einen Politiker mit langjähriger Erfahrung entschieden, um den dringenden Neuanfang für unser Bundesland anzustoßen. Nun also – endlich – der Aufbruch? Leider nein.
Stillstand und Uneinigkeit kennzeichnen die ersten 100 Tage. Ob Armut, Verschuldung, Arbeitslosigkeit oder die Koordination des Flüchtlingszustroms: Es ist dem Bürgermeister nicht gelungen, auch nur für eines der bestehenden großen Probleme Bremens eine Lösung vorzulegen, geschweige denn umzusetzen.
Bei den Finanzen wird weiter vertuscht, verschoben und abgewartet anstatt Risiken zu benennen und Reformen anzustoßen. Der Zoff zwischen SPD und Grünen lähmt unser Land. Ob es bei der Versorgung von Flüchtlingen um Einigkeit im Bundesrat geht, um den Bau des OTB oder um die Ausweisung neuer Baugebiete: Rot-Grün streitet anstatt die besten Kompromisse für Bremen zu treffen. So sieht kein Aufbruch aus.
Contra: Kein Macher, Status-Quo-Verwalter
100 Tage Carsten Sieling – 100 Tage frischer Wind? Wunschdenken! Denn die SPD hat keinen Macher, sondern einen Status-Quo-Verwalter geholt. Drei Beispiele:
Der Senat hat eingestanden, spätestens ab 2018 die Obergrenze für neue Schulden zu reißen. Das zeigt, dass Rot-Grün bei den Ausgaben disziplinlos ist. Dieses Verhalten gefährdet die Eigenständigkeit Bremens. Gegensteuern ist angezeigt!
In der Bildungspolitik führen wir die Rankings an – leider von hinten. Sielings Antwort sind neue Doppelstrukturen. Nun soll es zwei Landes-Jugendämter geben. Das versteht keiner.
Rot-Grün ist in der Flüchtlingspolitik aktionistisch und will privates Eigentum sicherstellen. Ein brisantes Unterfangen. Auch wird wenig kommuniziert, wie die kurzfristige Belegung von Turnhallen zeigt. Gutes Krisenmanagement sieht anders aus.
Daher Herr Sieling: Aufwachen! Wir brauchen künftig Macher und keine Verwalter!
Contra: Fragen nach der Durchsetzungsfähigkeit
Viele hatten auf einen Aufbruch gehofft, nachdem der Senat in der letzten Legislaturperiode die Probleme eher verwaltet hat. Die ersten Schritte des neuen Bürgermeisters lassen aber nicht erkennen, dass sich viel bewegt. Vor allem, was die notwendige Abkehr von der Schuldenbremse angeht, würde ich mir ein offensiveres Auftreten wünschen.
Bei der Unterbringung von Flüchtlingen fehlt es sowohl an Lösungsvorschlägen als auch an klaren Aussagen für Bremens Bürger. Das wirft Fragen nach der Durchsetzungsfähigkeit Carsten Sielings auf.
Ich werde ihn daran messen, ob er wenigstens die Minimal-Versprechen des Koalitionsvertrages einhält. Wenn zum Beispiel bei den nächsten Haushaltsberatungen keine Mittel für zusätzliche 200 Lehrkräfte bereitgestellt werden, dann ist das fürs Bundesland fatal. Zumindest für das armutsgefährdete Drittel der Einwohner, das auf eine gute öffentliche Infrastruktur angewiesen ist.