30 Jahre Aids-Beratung: „Krankheit hat was Mystisches“

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Thomas Elias. Foto: Schlie

„Aids war Krieg“, sagt Thomas Elias, Geschäftsführer der Aids-Hilfe Bremen über die 80er- und 90er-Jahre. Heute hat die Krankheit einen Teil ihres Schreckens verloren. Elias findet: Relevanz hat das Thema trotzdem.

Weser Report:  Wir haben 2015 – ist Aids überhaupt noch ein Problem?

Antwort: HIV ist eine Erkrankung, die heute gut händelbar ist. Sie hat fast den Status einer sogenannten sehr seltenen Erkrankung, die weniger als 50 von 100.000 Menschen betrifft.

Wie viele infizierte Menschen gibt es in Bremen – und wie viele kommen jährlich neu hinzu?

In Bremen gibt es etwa 2.000  Infizierte. Jährlich stecken sich acht bis neun weitere Bremer an.

Wie leben diejenigen, die erkrankt sind?

Sie nehmen heute im besten Fall täglich eine Tablette, haben keinen nachweisbaren Virus mehr und können niemanden anstecken. Das Virus wird unterdrückt, bis die Medikamente abgesetzt werden. Man darf allerdings nicht mehr als 18 Dosen pro Jahr vergessen. Die meisten Patienten, die wir betreuen, haben keine Nebenwirkungen. Eigentlich werden nur Laborwerte behandelt. Die meisten Diabetiker, die täglich Insulin spritzen müssen, würden ihre Krankheit wohl mit Freude gegen HIV tauschen.

Es gibt aber auch Leute, die schwerkrank sind und sich trotzdem nicht testen und behandeln lassen. Sie brechen dann irgendwann mit einem vollen Aids-Bild vor dem Krankenhaus zusammen. Aber selbst die kann man in fünf bis sieben Jahren wieder aufbauen. Zwischen 1984 und 1996 war Aids wie Krieg. 124 Menschen aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis sind einfach weggestorben – aber seit 1996 haben wir bei der Aids-Hilfe niemanden mehr verloren.

Trotzdem machen Sie fast 1.500 HIV-Tests jährlich in ihrer Beratungsstelle.

Das ist der Ablasshandel des dritten Jahrtausends. Vielen geht es darum, sich von „verbotenen Erlebnissen“ reinzuwaschen, wenn sie ihren Partner betrogen, mit einer Pros­tituierten geschlafen oder als heterosexueller Mann Sex mit einem Mann gehabt haben. HIV ist mit etwas verbunden, das man lieber nicht gemacht hätte und von dem man sich besudelt fühlt. Bei 95 Prozent der Menschen, die sich testen lassen, gab es aber – das ergibt das Beratungsgespräch – eigentlich gar kein Risiko für eine Ansteckung. Aids hat etwas Mystisches.

Wer ist denn überhaupt gefährdet, sich anzustecken?

Dass sich ein heterosexueller Mann bei einer Frau infiziert hat, habe ich in 30 Jahren noch nie erlebt. Schließlich müsste er eine Verletzung am Penis haben und würde dann doch wohl eher ein Date mit einem Arzt haben. Hetero-Frauen haben aber andersherum immer ein Risiko – denn bis zu 20 Prozent aller Männer haben gelegentlich Geschlechtsverkehr mit anderen Männern, ohne eine homosexuelle Identität zu haben.

Wie hat sich die Präventionsarbeit in 30 Jahren Aids-Beratung verändert?

Früher gab es 18 schwule Kneipen in Bremen. An jedem Wochenendtag kamen allein 2.500 Auswärtige dorthin. Heute daten die Leute im Internet und es gibt noch eineinhalb Läden. Jene, die dort sitzen, brauchen wir nicht aufzuklären. Gerade mittelschichtenorientierte Schwule  haben Zugang zu allen Informationen. Wir müssen dorthin, wo Leute nichts verstehen.

Nämlich?

Es gibt Migrantengruppen, die haben ein anderes Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Aids wird von einigen als Fluch oder Verhexung begriffen. Außerdem wird über Drogenkonsum falsch gedacht. Im Fokus sind immernoch die Alt-Junkies, dabei gibt es eine große Szene im Mittelstand. Überall, wo eine Techno-Party stattfindet, sind 80 Prozent der Besucher knallebreit. Da haben wir einen massiven Drogenkonsum von Menschen, die sich nicht als Drogenabhängige fühlen.

Was hat das mit dem HIV-Infektionsrisiko zu tun?

Unter Drogenkonsum sinkt der Kontrollverlust. Es gibt Läden, da haben Gäste nach 23 Uhr auf den Gängen Geschlechtsverkehr. Bei Jugendlichen ist die Freizügigkeit ohnehin größer. Für viele hat zumindest in der Fantasie schon einmal stattgefunden, was ich in dem Alter gar nicht kannte.

Was heißt das für die Aids-Aufklärung in den nächsten Jahren?

Menschen wissen immer mehr, können dieses Wissen aber nicht immer umsetzen. Dabei helfen Beratungsstellen. Außerdem sind sie Indikatoren für Veränderungen in der Gesellschaft. Dort erlebt man die Realität. Das Thema Aids hat seine Relevanz. Es verdient Beachtung, aber keine Hysterie. Ich fordere seit Jahren eine Präventionskonferenz für Bremen – aber seit wir aus der staatlichen Förderung raus sind, ist auch der Dialog mit den Behörden schwierig.

Thomas Elias, 54, ist Sozialpädagoge und arbeitet seit 1986 als Berater für die Bremer Aids-Hilfe (heute: Zentrum für Suchterkrankungen und sexuelle Gesundheit) und ist seit 1996 ihr Geschäftsführer. Die Beratungsstelle befindet sich am Sielwall 3 und ist unter der Nummer 336 36 30 zu erreichen.

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