Frage: Herr Scherf, Erinnern Sie sich, wie sie 1948 mit Ihrer Familie in das frisch gegründete Bundesland Bremen zurückgekehrt sind?
Henning Scherf: Natürlich, ich war ja schon zehn. Da meine Familie im Krieg gegen die Nazis war, haben wir nicht gejammert über die Trümmer, die Bomben, die vielen Toten – wir waren nur heilfroh, dass die Nazis weg waren. Über die Bremer Trümmerlandschaft bin ich mit meinen Geschwistern wie über einen Spielplatz getobt.
Wir waren umgeben von Menschen, die redebereit und kritisch waren – und ich habe immer meine Ohren aufgemacht. Ich saß unter der Tribüne, als Kurt Schumacher, zurück aus dem KZ, eine Rede gehalten hat.
Bremen hat in den 70 Jahren viel durchgemacht. Welche Entwicklungen waren richtig gut für das Land?
Erst mal war es ein Riesenglück, dass die Amerikaner hier waren, weil sie den Hafenzugang wollten. Die wollten keine Rache, sondern Verbündete. Aber auch sonst gab es zahlreiche Glücksfälle. Dass Hans Koschnick hier wieder die Luft- und Raumfahrttechnik ansiedeln konnte, war so einer.
Werder war von Anfang an großartig für die Stadt: Schon in den 50ern waren sie deutscher Meister. Toll auch die Strahlkraft der Philharmoniker und des Bremer Theaters: Intendant Kurt Hübner hat das neue deutsche Theater damals mit erfunden. Das sind Bremens Botschafter in der Welt.
Und Ereignisse, die als große Krisen in Erinnerung geblieben sind?
Na, das waren natürlich die großen Pleiten, von Borgward, der AG Weser oder der Vulkan-Werft, die in meine eigene Regierungszeit fiel. Große Adressen, die über Generationen hinweg Menschen Arbeit gegeben hatten. Das war jeweils ein ganz, ganz großer Kummer. Aber auch der Deichbruch an der Weser und der Flugzeugabsturz am Flughafen fallen mir ein.
Immer jedoch habe ich bei diesen Katastrophen erlebt, dass Menschen zusammen gerückt sind. Aus der Uni, die krisenhaft startete, ist richtig was geworden. Werder stieg nach dem Abstieg 1980 sofort wieder auf und wurde richtig gut. Und am Space Park, den man uns um die Ohren gehauen hat, boomt es jetzt.
Sie waren nicht nur Bürgermeister, sondern haben Bremen auch im Bundesrat vertreten. Was für Qualitäten braucht es dort?
Wir sind zwar die Kleinsten dort, müssen aber aufpassen, dass man uns nicht als nervige Querulanten abstempelt. Unsere Rolle dort ist die als Vermittler – so wie Hans Koschnick vor mir und Jens Böhrnsen nach mir, war auch ich dort Vorsitzender des Vermittlungsausschusses. Die anderen Länder sollten das Gefühl haben „gut, dass es die gibt“.
Aber ist das denn so? Reicht es jetzt nach 70 Jahren nicht langsam mal mit Bremen als eigenständigem Bundesland? Nein, ich bin mir sicher, die Bundesländer haben dazu beigetragen, dass die BRD so stabil ist. Gegenüber allen, die in Europa meinen, dass nur ein starker Zentralstaat die Lösung ist, haben wir hier den erfolgreichen Gegenbeweis.
Aber die Länderaufgaben Polizei und Bildung hat Bremen nicht immer tadellos hinbekommen…
Ach, da gibt es viele Vorurteile. Bei den Schulen dürfen wir nicht alle über einen Kamm scheren – Städte haben nun einmal überproportional viele Schüler mit Migrationshintergrund oder aus bildungsfernen Familien. Wir müssen da aber noch mehr tun, schließlich brauchen wir ja junge Leute! Was die Sicherheit angeht, muss sich Bremen vor keinem Bundesland verkriechen.
Manchmal übertreiben Polizeigewerkschaftler da, weil sie auch interessengeleitete Politik machen. Am meisten Angst haben die alten Menschen – und dabei sind die am wenigsten bedroht. Die geringste Angst haben wiederum die jungen Männer, die am meisten bedroht sind. Sicherheitsbedenken sind also sehr relativierbar.
Vermissen Sie es manchmal, nicht mehr mitentscheiden zu können?
Nein, nein, ich bin jetzt zwölf Jahre aus der aktiven Politik raus. Noch keinen Tag hatte ich das Bedürfnis, zurück zu kehren. Ich bin auch sehr umtriebig, habe viele Ehrenämter, bin noch regelmäßig im Rathaus, diese Woche verleihe ich den Heinemann-Preis.
Dazu kommen die Bücher, die ich über das Altern schreibe. Ich muss sagen, das Leben nach der Berufstätigkeit ist toll – und ich rate allen, die das vor sich haben, sich darauf zu freuen.
Haben Sie vielleicht noch einen Wunsch für Bremen?
Ich wünsche mir von Herzen, dass die Bremer ihre Weltoffenheit und Neugierigkeit behalten und zu schätzen wissen. Bremen ist eine so vitale und attraktive Stadt!