Dierk Schittkowski leitet das Bremer Landesamt für Verfassungsschutz seit August 2016. Zuvor war er Leiter für Öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Innenbehörde. Foto: Schlie
Interview

Verfassungsschutz: „Gefahr der Radikalisierung“

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Der Bremer Verfassungsschutz-Chef Dierk Schittkowski über Corona-Demonstranten.

Weser Report: Herr Schittkowski, zu größeren Demonstrationen gegen die Corona-Einschränkungen kam es erst, als die ersten Maßnahmen schon wieder gelockert wurden. Warum?

Dierk Schittwoksi: Möglicherweise musste sich die Szene erst sortieren und neu organisieren. Aber in den sozialen Netzwerken gab es schon Tage vor den ersten Lockerungen Hass und Hetze gegen die Verantwortlichen aus Politik und Verwaltung. Dass sich das dann auf die Straße verlagerte, kam aber sehr plötzlich.

Sie sprechen von einer Szene, aber die Akteure sind doch sehr unterschiedlich.

Ja, das Spektrum reicht von besorgten Bürgern bis zu Verschwörungstheoretikern. Nicht alle, die mitdemonstrieren, sind extremistisch, aber viele sind dafür anfällig.

Welche Gefahr droht?

Jedes neue Thema birgt die Gefahr der Radikalisierung. Sie erfolgt heute insbesondere über die sozialen Netzwerke. Und die wurden wegen der Ausgangsbeschränkung vielleicht intensiver genutzt als vorher. Ob Verschwörungstheoretiker, Impfgegner oder Rechtsex-tremisten einschließlich der Reichsbürger – alle Akteure haben das Corona-Thema aufgegriffen und so versucht, ihre Anhängerschaft zu vergrößern. Am stärksten verfängt es zurzeit bei den Rechtsextremisten. Sie rufen am offensivsten zu Protesten auf und zeigen sich auch auf den Demonstrationen. Auch einzelne Personen der AfD engagieren sich dort. Sie waren von Anfang an gegen alle Corona-Maßnahmen und griffen das Thema gerne auf.

Verfängt der Protest? Die Motive sind doch teils sehr abenteuerlich. Die einen fürchten eine Zwangsimpfung, mit der Chips unter die Haut gepflanzt werden sollen. Andere beschwören die Bildung einer Weltregierung. Und dann gibt es sachliche Kritik an einzelnen Maßnahmen.

Demonstranten tragen eine Kette mit Alu-Kügelchen um den Hals…

…um sich vor angeblichen Strahlen zu schützen.

Andere rufen: Gebt Gates keine Chance.

Der Microsoft-Gründer finanziert große Impfkampagnen.

Was wir eher aus reißerischen Fantasy-Krimis kennen, scheinen einige für wahr zu halten. Einige Impfgegner tragen einen gelben Stern mit der Aufschrift: Nicht geimpft. Dies ist eine völlig inakzeptable Überzeichnung ihrer Situation gegenüber der Judenverfolgung und dem Holocaust im Dritten Reich. Wir stellen in verschiedenen Verschwörungstheorien eine große Nähe zum Rechtsextremismus fest. Wenn sie von einer Weltverschwörung sprechen, wird häufig auch das Judentum genannt.

Wie lassen sich die Menschen von der Wirklichkeit überzeugen?

Das Entscheidende ist: Wer in die Teufelsspirale der Verschwörungstheoretiker gerät und dafür Sympathie entwickelt, ist mit sachlichen Argumenten kaum wieder aus dieser Gedankenwelt herauszuholen. Verschwörungstheorien haben ein Suchtpotenzial. Ihre Anhänger sind ausschließlich auf der Suche nach Bestätigung. Finden sie diese in dem Hass und der Hetze des Rechtsextremismus, birgt dies besondere Gefahren, die es rechtzeitig zu erkennen und denen es zu begegnen gilt.

Wo verlaufen die Grenzen zwischen denen und sachlich argumentierenden Gegnern einzelner Maßnahmen?

Natürlich kann man unterschiedlicher Meinung sein, ob alle Maßnahmen so durchgeführt werden müssen. Das ist eine politische Auseinandersetzung, die wir brauchen und die in vollem Gange ist. Das hat nichts mit Verschwörung oder Extremismus zu tun. Umso wichtiger ist es, immer wieder hierüber aufzuklären und dies sorgfältig zu trennen. Nahezu nicht mehr zu erklären ist es, wenn ein bekannter Sänger mit Tränen in den Augen davon spricht, dass die Reichen dieser Welt Kinder gefangen halten und deren Blut trinken, um länger leben zu bleiben.

Welchen Einfluss nehmen Linksextremisten auf die Corona-Proteste?

In der Szene gab es durchaus eine große Akzeptanz für die Einschränkungen, aber gleichzeitig ein ebenso großes Misstrauen gegenüber dem Staat, dass er auch nach dem Ende der Pandemie an allen Maßnahmen festhält, um die Bürger umfassend überwachen zu können. Dies wird sehr aufmerksam verfolgt und diskutiert, führte aber nicht zu solchen Demonstrationen, wie wir sie aus dem rechtsextremen Bereich kennen. Aktuell rufen die Linksextremisten zu Gegendemonstrationen auf, wenn die Rechten auf die Straße gehen.

Welche Rolle spielt dabei Bremen?

Die Demonstrationen, die wir bisher hatten, verliefen friedlich. Bei der ersten Demonstration wurde die Zahl der Teilnehmer auf 300 geschätzt, bei der letzten auf weniger als 200. Ob das schon ein Trend ist, lässt sich noch nicht sagen. Aber in Stuttgart und Berlin geht es um viel höhere Zahlen. Offensichtlich gibt es in Bremen nicht das gleiche Mobilisierungspotenzial. Einzelne Akteure fahren auch lieber nach Berlin, weil da mehr los ist.

Rückt der Protest bisher eher unbekannte Menschen und Gruppen ins Blickfeld?

Neu ist die Gruppe Widerstand 2020. Sie beabsichtigt ja, eine Partei zu werden. Man kann noch nicht sagen, ob dies gelingt und wer da am Ende an Einfluss gewinnen wird.

Was passiert, wenn im Herbst tatsächlich eine zweite Corona-Welle übers Land rollt?

Wir würden dann möglicherweise mit zwei Phänomenen konfrontiert: der Pandemie und der Angst vor einer Wirtschaftskrise. Und Krisen sind immer geeignet, Menschen zu radikalisieren. Bleiben wir optimistisch, dass dies nicht eintritt.

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