Weser Report: Herr Wulff, wie gefährlich ist Corona für die Demokratie aufgrund der vielen Einschränkungen?
Christian Wulff: Wir werden uns sehr genau ansehen müssen, welche Folgen dadurch entstehen, dass Kinder eine Zeit lang nicht in die Schule gehen konnten, Schulchöre nicht mehr proben konnten, Sportvereine eine Zeit lang keinen Nachwuchs werben konnten, dass Menschen sehr starken staatlichen Einfluss gespürt haben und sich vielleicht weiterhin lieber auf den Staat verlassen wollen, als die Dinge wieder selbst in die Hand zu nehmen. Zwar ist es noch zu früh, eine Bilanz zu ziehen. Aber wir haben gesehen, dass unsere Gesellschaft sehr gut funktioniert, weil sich viele Menschen in den Dienst der Sache gestellt und die Regelungen akzeptiert haben.
Wie viele Einschränkungen verträgt die Demokratie?
Das ist eine extreme Situation, die die Distanz zum Staat vergrößern, die aber auch zu einem Gemeinschaftserlebnis führen kann, dass man die Pandemie gemeinsam überstanden hat und wieder in ein normales Leben zurückkehren kann. Im Moment tendiert die Mehrheit wieder zu schärferen Maßnahmen. Das kann natürlich den Frust jener weiter steigern, die generell die Notwendigkeit dieser Maßnahmen bestreiten. Ohne die meisten geht es aber nicht, denn die Beschäftigten in den Intensivstationen müssen im Mittelpunkt stehen.
Droht eine Spaltung der Gesellschaft?
Dass jemand, der sich nicht impfen lässt, der keine Maske trägt, mehr Beeinträchtigungen hinnehmen muss, ist für mich richtig, weil zur Freiheit auch Verantwortung gehört, zur Übernahme von Rechten auch die Übernahme von Pflichten.
Brauchen wir eine Impfpflicht?
Die Politik hat sich sehr früh gegen eine Impfpflicht festgelegt. Das engt unsere Spielräume massiv ein, um glaubwürdig zu bleiben. Vielleicht hätte man sich am Anfang der Pandemie nicht so festlegen sollen. Jetzt kann man nur für einzelne Berufsgruppen eine Impfpflicht in Erwägung ziehen. Und Überzeugungsarbeit leisten.
Anfangs wurden viele Einschränkungen nur über Verordnungen geregelt, ohne immer die Parlamente einzubinden.
Die Kritik war am Anfang der Pandemie berechtigt. Inzwischen werden alle Maßnahmen im Parlament diskutiert und gebilligt.
Also anders als in der Euro-Krise. Da hatten Sie kritisiert, dass die Parlamente nicht ausreichend eingebunden worden seien.
Das liegt in der Finanz- und Währungspolitik weiter an der exzessiven Auslegung der Verträge durch die Europäische Zentralbank.
Sie fordern, Europa sollte ein Konkurrenzprojekt starten zu dem amerikanischen Google und dem chinesischen Alibaba. Aber steckt die EU nicht in der Krise, wenn man etwa an Polen und Ungarn denkt?
Wir haben erlebt, dass Europa mit Airbus ein europäisches Unternehmen für den Flugzeugbau etablieren konnte. Ein solches Projekt im IT-Bereich zu finden, wäre den Schweiß der Anstrengung wert. Wenn die EU-Staaten sich auf eine einheitliche eigenständige Digitalisierungsstrategie verständigen würden, könnte solch ein Gemeinschaftsprojekt Europa wieder zusammenbringen.
Das Airbus-Projekt wurde anfangs staatlich gefördert.
Dass ein europäisches Digitalisierungsprojekt am Anfang viel Geld kosten wird, daran habe ich keinen Zweifel. Aber langfristig wird es den Stellenwert der europäischen Wirtschaft in der Welt erhöhen. Denn Suchmaschinen entscheiden immer mehr, welche Waren aus welchem Land nachgefragt werden. Der Monopolmissbrauch braucht Konkurrenz.
Querdenker verdanken dem Internet eine große Verbreitung. Was kann man ihnen entgegensetzen?
Auf den Demonstrationen der so genannten Querdenker gab es manchen, der dachte, er vertrete die sogenannte schweigende Mehrheit. Aber die Bundestagswahl im September hat gezeigt, dass die Parteien, die das äußere Spektrum repräsentieren, jedenfalls viel weniger sind, als sie dachten. Andererseits fühlen sich zunehmend mehr Menschen ohnmächtig. Um die müssen wir uns stärker bemühen.
Brauchen wir dafür neue Instrumente wie etwa einen Volksentscheid auf Bundes-Ebene?
Im Moment zeigen diejenigen, die sich ohnmächtig fühlen, wenig Interesse an einer Diskussion. Manche haben die klassische Politik abgeschrieben. Aber das ist kein Grund, sich denen nicht zu stellen. Wir müssen uns Gedanken machen, wie wir die Menschen wieder zusammenbringen und vor allem wo. Wir müssen in die Stadtteile rein, in bestimmte Straßen. Mit Sozialarbeitern, Bürgerbefragungen und Bürgerversammlungen. Wir müssen ran an die Leute. Wir alle müssen diese Kärnerarbeit leisten. Und dabei auch viel zuhören. „Niemand darf die absolute Wahrheit für sich reklamieren. Alle müssen sich an ethische Normen halten. Und: Mehrheitsentscheidungen akzeptieren.“ So hat es sinngemäß der fünfte Bundespräsident, Karl Carstens aus Bremen, formuliert. Besser kann man es meines Erachtens nicht ausdrücken.