Kristina Vogt, Linken-Politikerin und seit 2019 Wirtschaftssenatorin, glaubt, dass Bremen von Groningen lernen kann. Außerdem will sie im nächsten Jahr ein Konzept zur Azubi-Abgabe für die Betriebe vorlegen.Foto: Schlie
Interview

„Die Stunde der Wahrheit“

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Was Wirtschaftssenatorin Kristina Vogt 2022 für Bremen erwartet.

Weser Report: Frau Vogt, vor welchen wirtschaftspolitischen Herausforderungen steht Bremen 2022?

Kristina Vogt: Der Wandel der Wirtschaft durch Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und Ausstieg aus der Kohle erfordert sehr viel staatliche Intervention, insbesondere wenn es um die Qualifizierung der Beschäftigten geht. Denn wir brauchen andere Berufsqualifikationen, nicht nur in einzelnen Branchen, sondern in allen Sektoren. Für die Weiterqualifizierung stellt die Bundesregierung Instrumente bereit, die allerdings noch verbessert werden müssen. Wir unterstützen auch durch Landesförderprogramme. Insbesondere die kleinen und mittleren Unternehmen brauchen Unterstützung. Denn wir wollen nicht, dass die Leute erst arbeitslos werden und dann durch die Agentur für Arbeit weiterqualifiziert werden. Sie sollen möglichst im Job weiterqualifiziert werden. Und wir müssen mehr Frauen für technische und IT-Berufe begeistern. Da steckt Deutschland noch in der Steinzeit.

Wie weit ist Bremen in der Dekarbonisierung, im Abschied von der Kohle?

Mit Landesmitteln haben wir ein Projekt aufgesetzt für einen kleinen Wasserstoff-Elektrolyseur für das Stahlwerk, das verantwortlich ist für über 50 Prozent der CO2-Emissionen im Land Bremen. Bei der EU-Kommission in Brüssel stehen drei Anträge auf Förderung zur Entscheidung an. Sie betreffen auch das Stahlwerk und Airbus. Kommen alle drei Anträge durch, muss Bremen allerdings möglicherweise einen dreistelligen Millionenbetrag aus eigenen Mitteln beisteuern, verteilt über mehrere Jahre.

Welche Folgen hat Corona für die Wirtschaft im nächsten Jahr?

Die Pandemie hat Bremen 2020 härter betroffen als andere Bundesländer, weil unsere Wirtschaft sehr stark vom Export abhängt und weil wir durch unsere industriellen Kerne größere Probleme haben. Mercedes leidet unter dem Mangel an Halbleitern, bei Airbus zeichnet sich im Geschäft mit Langstreckenflugzeugen noch keine Erholung ab. Die Frage ist, welche Konsequenzen zieht die EU aus den Problemen mit Lieferketten? Müssen wir in Europa zum Beispiel mehr Halbleiter produzieren?

In Bremen gingen in diesem Jahr 98 von 10.000 Unternehmen pleite. In keinem anderen Bundesland ist die Quote höher. Warum?

Wir haben als Stadtstaat eine besondere Struktur. Aber ich gehe im Moment noch von einer gesunden Situation aus. Die Stunde der Wahrheit kommt, wenn Ende März die staatlichen Überbrückungshilfen enden. Nicht nur in Bremen gibt es Betriebe, die schwer erkrankt sind und nur überleben, weil es staatliche Gelder gibt.

Die Koalition hat im Koalitionsvertrag festgehalten, dass Betriebe eine Ausbildungsabgabe zahlen sollen, wenn sie nicht selbst ausbilden. Wie weit ist das Projekt?

In bestimmten Bereichen haben wir zu wenig Ausbildungsplätze, dort wollen wir deren Anzahl erhöhen. Nach einem juristischen Gutachten ist eine Landesausbildungsabgabe verfassungsrechtlich möglich. Jetzt haben wir eine Expertenkommission benannt, die die Umsetzung prüfen soll. Die Kommission wird entscheiden müssen, ob es eine Einheitslösung für alle Branchen und Betriebe geben kann oder branchenspezifische Lösungen. Die speziellen Probleme jeder einzelnen Branche müssen eine Berücksichtigung finden. Bis Ende 2022 wollen wir spätestens eine Lösung haben.

Wie kann solch eine Regelung aussehen?

Wir haben mehrfach erlebt, dass Bremens größere Arbeitgeber ihre Ausbildungskapazitäten zurückgefahren haben, zum Beispiel für Industriekaufleute. Kleinere und mittlere Unternehmen bilden aus, müssen dann aber erleben, dass größere ihnen die ausgebildeten Fachkräfte abwerben. Außerdem wollen wir kleine und mittlere Betriebe unterstützen, die bei der Ausbildung Hilfe brauchen, weil ihre Auszubildenden zum Beispiel Probleme mit der deutschen Sprache haben. Und wir haben in Bremen Schulabgänger, von denen wir wissen, dass sie eine Ausbildung nicht in drei Jahren erfolgreich abschließen werden. Da müssen wir gucken, wie wir die trotzdem in eine Ausbildung bringen. Ich bin keine Freundin davon, noch eine schulische Maßnahme vorzuschalten. Viele lernen in der Praxis viel besser.

In der Innenstadt subventionieren Sie Popup-Stores, die in Läden einziehen, die sonst leerstünden. Ende März nächsten Jahres laufen die ersten Verträge mit solchen Geschäften aus. Wie geht es dann weiter?

Die Popup-Stores sollen sich selbst tragen. Alle Betreiberinnen und Betreiber haben signalisiert, dass sie hochmotiviert sind und weitermachen wollen. Anfang nächsten Jahres wird man in die konkreten Gespräche mit den Immobilienbesitzerinnen und Besitzern gehen. Die Entwicklung des City-Einzelhandels hängt stark davon ab, was mit dem alten Sparkassen-Komplex Am Brill und mit dem Parkhaus Mitte geschieht. Über das Parkhaus Mitte und das ehemalige Kaufhof-Gebäude verhandeln zwei private Investoren. Die Stadt hat ihnen die Frist verlängert. Wir müssen uns als Stadt aber auch alternative Szenarien überlegen.

An welcher Stadt soll sich Bremen bei der Entwicklung der Innenstadt orientieren?

In der niederländischen Stadt Groningen drohte ein Teil der Innenstadt vor einigen Jahren zu veröden. Inzwischen ist dort mehr Leben als zuvor. Die Stadt hat im Zentrum ein Forum errichtet mit öffentlichen Bibliotheken und Einrichtungen, Cafés, Restaurants und Kinos. Alle Einrichtungen, die täglich geöffnet haben müssen kostenlos genutzt werden können. Das Forum kostet öffentliches Geld, unklar ist, ob das eins zu eins zurückkommt, aber es trägt dazu bei, dass das gesamte Quartier aufgewertet wurde. Volkswirtschaftlich ist das Forum ein Gewinn. Allerdings gab es zunächst viele Widerstände gegen den Forumsplan, ein Bürgermeister verlor darüber sein Amt, und Planung und Bau dauert 15 Jahre. Aber der Erfolg spricht für sich.

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