Weser Report: Pater Nikodemus, das Außenministerium soll sich stärker mit Religion beschäftigen, fordern Sie. Warum ist Religion für die internationale Politik wichtig?
Nikodemus Schnabel: Wir müssen die klassische Außenpolitik ergänzen. Es reicht nicht, dass nur Regierungen miteinander sprechen oder Wirtschaftsvertreter. Denn wir verstehen die Welt nicht, wenn wir allen Menschen, allen Playern auf der Weltbühne unterstellen, dass sie nur geopolitisch denken. Viele Menschen auf dem Planeten reagieren für uns unverständlich, weil ihr Handeln in unseren Augen machtpolitisch oder wirtschaftlich keinen Sinn ergibt. Ihr Handeln erklärt sich nur aus dem Glauben heraus.
Schwindet nicht der Einfluss der Religion? In Deutschland sind 2021 fast 360.000 Menschen aus der Kirche ausgetreten, so viele wie noch nie.
Wenn in Deutschland die Menschen scharenweise aus der Kirche austreten, wir aber auf eine Welt treffen, in der viele Menschen sagen: Das wichtigste ist mein Glauben, dann ich kann ich nur erfolgreich Politik machen, wenn ich etwas von Religion verstehe. Gerade wenn Religion in Deutschland an Bedeutung verliert, wird es umso wichtiger, dass wir Kompetenz für das Thema Religion aufbauen, um international überhaupt sprachfähig zu bleiben. Denn 84 Prozent der Menschen weltweit bekennen sich zu einer Religion; Tendenz steigend.
Sie waren von Oktober 2018 bis November 2019 Berater des Auswärtigen Amtes. Frank-Walter Steinmeier, bis Januar 2017 noch Außenminister, hatte das Referat Religion und Außenpolitik eingerichtet und Sie als Berater gewonnen. Wie kam es dazu?
Ich wurde vom Auswärtigen Amt angesprochen, weil ich Theologe und fest in meiner Religion verwurzelt bin und Kontakte zu anderen Religionen habe. Außerdem bin ich im Außenministerium bekannt, weil ich als Mönch der Benediktiner-Abtei Dormitio in Jerusalem viele deutsche Politiker durch diese Stadt geführt habe.
Die grüne Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat keinen Religionsvertreter mehr als Berater engagiert. Warum nicht?
Ich hatte damals einen Ein-Jahres-Vertrag. Als der auslief, beriet der evangelische Pastor Peter Jörgensen das Ministerium, danach der Rabbiner Maximilian Feldhake, ihm folgte Nurhan Soykan, Generalsekretärin des Zentralrats der Muslime in Deutschland.
Soykans Berufung stieß auf Kritik, weil sie sich angeblich nicht ausreichend von Antisemitismus und Islamismus distanziert hat. Nurhan Soykan wies die Vorwürfe zurück. Doch seither verzichtet das Ministerium auf einen Religionsberater.
Noch in der Amtszeit von Heiko Maas als Außenminister liefen alle Verträge aus, neue wurden nicht mehr geschlossen. Ich befürchte, dass das Thema Religion mit anderen Themen verschmolzen wird und in einem Referat für Zivilgesellschaft aufgeht. Dabei zeigt auch der Angriffskrieg Putins auf die Ukraine, wie wichtig das Verständnis von Religion und Kontakte zu Kirchen sind.
Steht in der russisch-orthodoxen Kirche der Patriarch von Moskau nicht an der Seite Putins?
Man weiß nicht, ob der Patriarch aus Überzeugung so redet, wie er redet, oder aus Angst vor Putin. Beides wäre schlimm. Es gibt innerhalb der russischen Orthodoxie aber viele Gläubige bis hoch zu den Bischöfen, die den Krieg ablehnen und den Moskauer Patriarchen Kyrill weghaben wollen. Bei Unruhen 2019 haben mehrere Klöster Dissidenten Schutz gewährt vor der staatlichen russischen Gewalt.
Wir kennen die Namen der Klöster und die Namen dieser Priester. Da wäre es doch Aufgabe des Auswärtigen Amtes, mit denen in Kontakt zu treten. Und wenn der russische Angriffskrieg irgendwann hoffentlich einmal endet, wird man auch mit Russland wieder reden müssen. Dazu könnten Religionen einen großen Beitrag leisten.
Wo hat denn der Kontakt der Politik zu Religionen schon geholfen?
Zum Beispiel in Westafrika im Kampf gegen das Ebola-Virus. Da kamen Experten aus den Industriestaaten und riefen die Menschen dort auf, sich impfen zu lassen. Aber in den Staaten, die früher Kolonien waren, reagieren die Menschen sehr sensibel auf Appelle aus dem Westen. Und dann hat sich der Malteserorden eingeschaltet und andere religiös basierte Organisationen und haben mit den Kirchen und Orden geredet und in den Kirchen und Moscheen wurde geimpft. So konnte Ebola besiegt werden.
Beispiel Zypern, das zerrissen ist zwischen der Republik Zypern und dem türkischen Nordzypern. Die Politik auf der Insel ist eine Katastrophe. Aber die Religionsführer sagen: Wir wollen ein anderes Zypern – auch die im türkischen Nordzypern. Die Christen dort setzen sich für den Wiederaufbau von Moscheen ein, die Muslime für den Wiederaufbau von Kirchen.
Die Religionsführer sind wichtige Gesprächspartner für eine besseres Zusammenleben auf der Insel. Ich kann noch viele Beispiele dafür nennen, wie wichtig das Wissen um Religionen und der Kontakt mit ihnen ist.