Es sind Fälle, die deutschlandweit für Entsetzen gesorgt haben. Die 12-jährige Luise aus Freudenberg – ermordet von zwei 12- und 13-jährigen Mitschülerinnen. Eine 13-Jährige aus Heide – stundenlang misshandelt von einer Gruppe Jugendlicher. Traurige Einzelfälle oder Spitze einer Entwicklung?
Die Polizeiliche Kriminalstatistik 2022 sieht bundesweit einen deutlichen Anstieg im Bereich der Kinder- und Jugendkriminalität von 35,5 Prozent. Darunter fallen Straftaten von Kindern (unter 14 Jahre), Jugendlichen (14 bis 17 Jahre) und Heranwachsenden (18 bis 20 Jahre).
Zahlen erreichen neues Hoch
In der Stadt Delmenhorst und im Landkreis Oldenburg gab es in den vergangenen Jahren, von 2019 bis 2021, einen klaren Abwärtstrend bei den Delikten von Kindern und Jugendlichen, wie Stefan Schmitz von der Polizeiinspektion Delmenhorst/Oldenburg-Land/Wesermarsch auf Nachfrage erklärt. 2022 seien die Zahlen jedoch wieder auf das Niveau angestiegen, das vor 2019 herrschte. Bei den Straftaten in der betroffenen Altersgruppe finden sich Diebstahl (wie Fahrrad- oder Ladendiebstahl), Sachbeschädigung (etwa Graffiti oder Schäden an Autos) sowie Betäubungsmitteldelikte am häufigsten.
Vergleicht man die Zahlen aus der Zeit vor der Pandemie mit den Werten von 2022, sieht die Polizei in Delmenhorst einen leichten Anstieg bei den Rohheitsdelikten wie Körperverletzung, wohingegen im Landkreis eher das Gegenteil der Fall ist. Bei Diebstählen seien sowohl in der Stadt als auch im Landkreis fallende Zahlen zu verzeichnen.
Korrelation zwischen Freiheit und Straftaten?
Die Polizei geht davon aus, dass nach einer Zeit vieler Einschränkungen mit dem Abklingen der Covid-19-Pandemie erneut mehr Möglichkeiten bestehen, uneingeschränkt am allgemeinen Leben teilzunehmen. „Dieses eröffnet vor allem auch jungen Menschen wieder ein breites, freies Feld bei der Gestaltung ihres Lebens, was maßgeblich auch zu einer ‚Normalisierung‘ des Kriminalitätsbildes führt“, so Schmitz. Zugleich merkt er an, dass die Zahlen abhängig sind von Parametern wie etwa der Aufklärung von Tatserien, die teilweise über ein Erhebungsjahr hinausgehen können und erst im Folgejahr in die Statistik einfließen. Vor allem im Bereich der Kinder- und Jugendkriminalität könne das zu statistischen „Ausreißern“ führen.
Der Kinderschutzbund reagiert
Von einer „alarmierenden Entwicklung“ spricht Uwe Dähne, Vorsitzender beim Kinderschutzbund Delmenhorst. Der Verein sehe eine Ursachen-Wirkungskette, die bei fortschreitender Armut vor allem in sogenannten „Working Poor“-Familien (Familien, die trotz Erwerbtstätigkeit unter dem Existenzminimum leben) beginne. Die Folge: Kinderarmut und Chancenungleichheiten. Trotz Doppelverdiener reiche in Zeiten der Rekordinflation bei vielen Familien das Erwerbseinkommen nicht mehr aus. Eine Spirale, aus der auch zunehmende Kindeswohlgefährdung hervorgehe.
Das Thema Kinder- und Jugendkriminalität macht sich beim Kinderschutzbund laut Dähne indirekt durch die Resonanz auf die Angebote bemerkbar. „Unsere Kurse zur Stabilisierung und Festigung der Persönlichkeit von Kindern sind immer schnell ausgebucht. Daraus leiten wir ein wachsendes Interesse der Eltern an privater familiärer Prävention ab“, so der Vorsitzende. Das gesamte Angebot des Kinderschutzbundes diene dem gemeinsamen, positiven, gewaltfreien und lösungsorientierten Erleben von konstruktiven Themen. Bei den Kursen oder auch Aktionen wie den Erlebnistagen erfahre der Nachwuchs den fairen Umgang mit Gleichaltrigen sowie den Umgang mit nachvollziehbaren Regeln. „Auf diese Art und Weise lernen die Kinder, Probleme gewaltfrei und kompromissorientiert zu lösen, das heißt, fair miteinander umzugehen und sich ihrer Persönlichkeit bewusst zu werden“, weiß Dähne.
Die Polizei verweist auf das seit Jahren gewachsene Netzwerk mit verschiedenen Trägern der Jugendarbeit, etwa der Kommunale Präventionsrat. Viele kriminalpräventive Maßnahmen seien während der Pandemie nicht durchführbar gewesen. Diese gilt es laut Schmitz nun, wieder voll aufzunehmen und möglichst auszuweiten.
Kommentar: Ursachen bekämpfen
Schnell war er da, der Aufschrei nach dem Mord an der 12-jährigen Luise durch zwei Klassenkameradinnen. Das Strafmündigkeitsalter solle von 14 auf 12 herabgesenkt werden. Kinder und Jugendliche, so hieß es, seien heute „viel weiter“ als früher. Aber diese Diskussion geht an dem Kern der Problematik vorbei. Die gestiegene Kriminalitätsrate bei Heranwachsenden spricht eine deutliche Sprache, die es zu hören und auf die es entsprechend zu reagieren gilt. Dabei sollte nicht die Strafe im Fokus stehen, sondern die Ursache für ein solches Verhalten. Sicherlich hat die Pandemie einen gehörigen Teil dazu beigetragen, Kinder und Jugendliche haben mit am meisten gelitten. Gewalt und anderes kriminelles Verhalten war aber schon vorher in dieser Altersgruppe ein Problem, auch wenn das Austesten von Grenzen natürlich zum Heranwachsen dazu gehört. Mehr Beachtung müssen in diesem Zusammenhang auch die sozialen Medien finden, die einen enormen Druck ausüben. Kinder und Jugendliche brauchen Halt, Angebote, ein offenes Ohr, und vor allem ein stabiles soziales Umfeld. Hier sind sowohl das Elternhaus mit einer entsprechenden Wertevermittlung als auch die Schulen und die Politik gemeinsam und gleichermaßen gefragt, um Kinder und Jugendliche gerade in diesen schwierigen Zeiten aufzufangen und stark zu machen.