Die früheste Berichterstattung einer Kinderverschickung in das Adolfinenheim nach Borkum geht auf das Jahr 1947 zurück. Foto: Schlie Die früheste Berichterstattung einer Kinderverschickung in das Adolfinenheim nach Borkum geht auf das Jahr 1947 zurück. Foto: Schlie
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Misshandlungen auf Rezept

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Studie zu Kinderverschickungen macht Verbindung zur Bremer Evangelischen Kirche deutlich

„Es geht auch darum, um Verzeihung zu bitten für das, was dort passiert ist“, sagt Jutta Schmidt, stellvertretende Leiterin der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche Bremen. In der Studie „Zwischen Zwang und Erholung“ von Gerda Engelbracht und Achim Tischer, in Zusammenarbeit und im Auftrag der Bremischen Evangelischen Kirche entstanden, wird die Thematik der Kinderverschickungen in Erholungsheime behandelt – und was die Kinder dort erlebten und erlitten. Die Studie erschien nun als Buch im Bremer Kellner Verlag. Konkret geht es um das Adolfinenheim auf Borkum, welches von 1921 bis 1996 bestand.

Die Aufarbeitung beginnt

Schätzungsweise acht bis zwölf Millionen Kinder wurden in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in die 1970er Jahre hinein verschickt, meist aus medizinischen Gründen. Bundesweit wurden etwa 1.000 Kinder­erholungsheime gezählt. Auf das Thema aufmerksam wurde die Bremer Kirchenkanzlei, weil sich eine betroffene Person meldete, die als Kind sehr schlechte Erfahrungen im Adolfinenheim gemacht hatte. Viele Zeitzeugen schweigen bis heute, erst in den vergangenen Jahren rückte das Thema in den Fokus der Öffentlichkeit, weil sich frühere Opfer von Gewalt und Missbrauch in Kindererholungsheimen zu Wort meldeten. „Die Aufarbeitung soll den Kindern von damals eine Möglichkeit zur Bewältigung der Traumata geben“, sagt Schmidt.

Vor diesem Hintergrund wurde auch in Bremen nachgeforscht und die Verbindung der Bremischen Evangelischen Kirche zu dem Heim auf Borkum gefunden. Es zeigte sich, dass sie nicht alleiniger Träger der Einrichtung war. Vor Ort kümmerten sich neben Medizinern und Angestellten anderer Träger aber auch Diakonissen um die Kinder.
Um die Studie nicht hauptsächlich auf Archivquellen aufzubauen, starteten die Autoren einen Aufruf über den Evangelischen Pressedienst. „Wir hatten eine überraschend gute Resonanz aus ganz Deutschland“, sagt Autor Achim Tischer. Eine der ältesten Erinnerungen eines Zeitzeugen reicht sogar zurück bis ins Jahr 1947. Das Buch sei aber keineswegs eine Schuldzuweisung. Es handele sich vielmehr um eine Dokumentation, die die Ereignisse aus unterschiedlichen Blickwinkeln darstelle, erklärt Verleger Manuel Dotzauer vom Kellner Verlag Bremen.

Kinderheime erzählen grauenvolle Geschichten

Die etwa sechswöchige Kur, welche die Kinder auf Borkum erlebten, war verschreibungspflichtig. „Oft gab es auch Kinder, die kerngesund waren und denen eine Krankheit angedichtet wurde“, beschreibt Tischer. Die meisten Kinder waren zwischen vier und zwölf Jahren alt, manche aber auch im Teenageralter. Oftmals erlebten die Kinder solch eine Kur auch mehrmals in unterschiedlichen Heimen an verschiedene Orten.

Das Adolfinenheim auf Borkum – dessen Name auf die Mutter des Stifters, Adolfine Meyer, zurückgeht – bestand über 75 Jahre. In diesem Zeitraum hätten viele Kinder schöne, aber eben auch eindeutig schlechte Erfahrungen gemacht. Der Alltag der Jungen und Mädchen habe aus liebloser Behandlung, Zwang und großer Angst bestanden, so ein Ergebnis der Studie. Öffentliche Demütigungen einzelner Kinder vor allen anderen, Nächte alleine in der Kälte im Keller und andere Strafen sollten abschrecken und zu Gehorsam führen – und zu Scham und damit zu Verschwiegenheit.

„Wir wollen mit der Studie auch das Schweigen durchbrechen und anderen Betroffenen die Chance geben, sich zu erinnern und einen Umgang damit zu finden“, sagt Karin Altenfelder, Landesdiakoniepastorin und Vorständin der Diakonie Bremen. Auch wolle man mit Zeitzeugen und Betroffenen ins Gespräch gehen, sagt Ulrike Kothe, Diakonin und leitende Schwester des Diakonissenmutterhauses in Bremen.

„Zwischen Erholung und Zwang“ gibt es im Buchhandel für 18 Euro.

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