Fabrikarbeiterin, Gewerkschafterin und Betriebsrätin: Ruth Müller. Fotos: Nordwolle Museum
Geschichte

Die emsigen „Wollmäuse“

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Ruth Müller und die Fabrikarbeiterinnen auf der Nordwolle / Einsatz als Betriebsrätin

„Wir waren grau wie die Mäuse und schnell wie die Mäuse“ – So beschrieb Ruth Müller einst die Frauen in der Wollkämmerei und Spinnerei. Staubbelastung, Maschinenlärm, Akkordarbeit und Schichtdienst prägten den Tagesablauf der Arbeiterinnen auf der Nordwolle. „Das waren schwere Zeiten… eine Frau war damals für fünf Maschinen gleichzeitig zuständig. Da musste man ganz schön hin und her springen“, berichtete Müller. Da die Haut der Frauen aufgrund der hohen Staubentwicklung in der Wollkämmerei grau war, nannte man sie „Wollmäuse“.

Die Spanierin Francisca Dolores Oiz Muedra in der Facherei, circa 1961/62

Sprachrohr der Arbeiterinnen

Ruth Müller, Fabrikarbeiterin, Gewerkschafterin und Betriebsrätin, war wohl die herausragendste Zeitzeugin aus der Ära der Norddeutschen Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei. Geboren 1922 in Wansen bei Hirschberg im Riesengebirge, war sie 1941 erstmals in Delmenhorst gemeldet. Als Umschülerin musste sie bereits Schweißarbeiten durchführen und Metallteile zusammennieten. 1942 heiratete sie, ein Jahr später kam Tochter Gisela zur Welt. Von 1947 bis 1948 arbeitete Ruth Müller erstmals auf der Nordwolle, und nach einer Zeit in Bottrop ging es nach der Geburt der jüngeren Tochter erneut nach Delmenhorst. Müller wurde in der Facherei, einer Abteilung der Spinnerei, wieder eingestellt. Nach einer Beschwerde beim Betriebsrat, da sie es mit den Augen nicht aushalte, wurde sie versetzt und war in den folgenden Jahren in fast allen Abteilungen der Produktion tätig.

Eine Arbeiterin an der Spinnmaschine.

Als eine ihrer wichtigsten Aufgaben sah Ruth Müller die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Frauen an, die in der Regel die schlechter bezahlten und unangenehmeren Arbeiten übernahmen. 1963 wurde sie in den Betriebsrat gewählt. „Ich bin mit mehr Stimmen gewählt worden als unser Betriebsratsvorsitzender. Ich hatte weit über 600 Stimmen“, erklärte sie später stolz. 1965 war etwa die Hälfte der Belegschaft weiblich. Im Zuge des Wirtschaftswunders und eines Arbeitskräftemangels wurden viele ausländische Frauen durch die Bundesagentur für Arbeit vermittelt. Ruth Müllers Kampf für die Rechte der Frauen in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft, vor allem für Frauen und Mütter in Vollzeit, blieb ihr stets eine Herzensangelegenheit.

Eine Arbeiterin an der Wöllerei.

Schwache Konjunktur führt zur Schließung

1962 gab es im Zuge einer Verschlechterung der Konjunktur erste Entlassungen. Ruth Müller hatte Glück: „Da kam dann ungefähr ein halbes Jahr später eine Entlassungswelle… aber ich bin nicht entlassen worden, sondern in die Kämmerei versetzt worden.“ 1970 fusionierte die Nordwolle mit der Kammgarnspinnerei Düsseldorf zur Vereinigten Kammgarn Spinnereien AG (VKS). Doch bei der schwachen Konjunktur in der Textilbranche half dies nichts. 1981 wurde die Produktion eingestellt, über 800 Beschäftigte verloren ihren Arbeitsplatz. Betriebsrätin Ruth Müller äußerte später ihre Wut über das Ende der Fabrik. Die Belegschaft hatte ihre Sozialplangelder in das Unternehmen investiert, damit ihre Jobs erhalten bleiben. Nach langen Verhandlungen vor dem Amtsgericht bekamen sie erst durch den Einsatz des Betriebsrates ihre Einlagen zurück.

Die Arbeit in der Zwirnerei.

Ende der 80er-Jahre wurde der Förderkreis Industriemuseum gegründet. Ruth Müller und weitere Bürger engagierten sich für die Einrichtung eines Museums zur Geschichte der Nordwolle. Müller selbst verschaffte den Besuchern als temperamentvolle Zeitzeugin gern einen persönlichen Einblick in die Vergangenheit und absolvierte bis zu ihrem 82. Lebensjahr etwa 2.000 Führungen. Im September 2008 verstarb sie im Alter von 85.

Doch Ruth Müller und ihr Wirken bleiben unvergessen. 2018 wurde Delmenhorst wegen ihr zum 37. Frauenort in Niedersachsen. Ausgehend von ihrer Geschichte erzählt eine Ausstellung im Nordwestdeutschen Museum für Industriekultur die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Fabrikarbeiterinnen der Nordwolle. Mehr Infos gibt es hier.

Ruth Müller als Museumsführerin im Fabrikmuseum.

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