Delme Report: Frau Radtke, der Ursprung des Muttertags liegt in der US-amerikanischen Frauenbewegung. Ann Maria Reeves Jarvis hatte 1865 die Organisation Mothers Friendships Day gegründet, in der sich Mütter zu aktuellen Fragen austauschen konnten. Zwei Jahre nach ihrem Tod, 1907, veranstaltete ihre Tochter Anna Marie Jarvis eine Gedenkveranstaltung zu Ehren ihrer Mutter. 1909 schon wurde der Muttertag landesweit gefeiert, in Deutschland 1923. Was ist vom Ursprungsgedanken heute noch übrig?
Charlotte Radtke: Leider hat der Muttertag heute oft nicht mehr viel mit seiner ursprünglichen Bedeutung zu tun. Stattdessen ist er zunehmend zu einem kommerziell geprägten Anlass geworden, bei dem Mütter vor allem mit Blumen, Pralinen oder anderen Geschenken gefeiert werden. Aber nur Blumen oder Ähnliches greifen zu kurz und werden dem eigentlichen Gedanken des Muttertags nicht gerecht. Die Anerkennung und Dankbarkeit sollte nicht nur im privaten, familiären Rahmen bleiben, sondern auch im gesellschaftlichen und politischen Kontext eine Rolle spielen. Der Tag muss daher auch genutzt werden, um auf die strukturellen Herausforderungen aufmerksam zu machen, denen Mütter tagtäglich begegnen, ihre zentrale Rolle in der Gesellschaft zu würdigen und ihre Forderungen ernst zu nehmen. In diesem Jahr gab es am 10. Mai eine große Aktions-Kampagne unter dem Motto „100.000 Mütter vor dem Brandenburger Tor“. Ich finde das eine besonders gelungene Kampagne, weil es den Fokus des Muttertags nutzt und auf konkrete Forderungen von Müttern aufmerksam macht, wie etwa eine Gesundheitsversorgung, die Frauen unter der Geburt stärkt, sowie finanzielle Absicherung auch im Alter.

Charlotte Radtke ist Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Delmenhorst. Foto: Martina I. Meyer
Inwiefern hat sich die Mutterrolle im Laufe der Zeit gewandelt und mit welchen besonderen Herausforderungen sind Mütter heutzutage konfrontiert, die es früher noch nicht gab?
In den letzten Jahrzehnten ist die Erwerbsarbeit von Frauen – insbesondere von Müttern – aufgrund einer veränderten Familienpolitik, der Erkenntnis, dass das traditionelle (männliche) Einverdienermodell nicht mehr ausreicht, und einer steigenden Scheidungsrate deutlich angestiegen. Immer mehr Mütter müssen eine Doppelrolle als Hausfrau und Erwerbstätige übernehmen. Auch wenn es diese Doppelbelastung bereits in der Vergangenheit gab, ist sie heutzutage für viele Mütter die Regel. Das Problem liegt jedoch nicht darin, dass immer mehr Frauen und Mütter einer Erwerbstätigkeit nachgehen, sondern darin, dass sich das traditionelle Mutterbild zwar angepasst, aber nicht wirklich weiterentwickelt hat. Verfestigte Rollenbilder in Familien, der Arbeitswelt und Gesellschaft – im Zusammenspiel mit institutionellen Rahmenbedingungen wie dem Ehegattensplitting – führen dazu, dass nach wie vor überwiegend Mütter den Großteil der Care-Arbeit übernehmen. Und das oft zusätzlich zu ihrer Erwerbsarbeit. Diese Mehrfachbelastung führt nicht nur zu emotionalen und zeitlichen, sondern auch zu finanziellen Herausforderungen und Abhängigkeiten. Hinzu kommt der Druck, der durch idealisierte Bilder von „perfekten Müttern“ und der „Karrierefrau“ in sozialen Medien verstärkt wird.
Tut man zu viel, ist man schnell eine Helikoptermutter, tut man zu wenig, ist man eine Rabenmutter. Wie können Mütter heutzutage die richtige Balance finden?
Mütter stehen ohnehin schon unter enormem gesellschaftlichen Druck. Die richtige Balance muss jede Familie für sich selbst finden. Viel wichtiger wäre es, den Blickwinkel zu ändern: Statt Mütter ständig zu bewerten, sollte der Fokus darauf liegen, was die Gesellschaft/ Politik tun kann, um sie zu unterstützen.
Die Mutterrolle scheint in unserer Gesellschaft sehr ideologisiert und mit Erwartungen nahezu überfrachtet zu sein. Muttersein bedeutet das vollkommene Mutterglück. Doch es gibt auch die andere Seite. Das Phänomen „Regretting Motherhood“ (Bedauern der Mutterschaft), das erstmals 2015 in einer Studie ergründet wurde, ist noch immer ein Tabuthema. Dabei lieben die betroffenen Frauen ihre Kinder durchaus, können sich aber nicht mit der Mutterrolle identifizieren. Wie stehen Sie zu dem Thema und denken Sie, dass es mehr in der Gesellschaft diskutiert werden müsste?
Ich finde das Thema sehr wichtig, da es zeigt, wie stark die Mutterrolle mit Erwartungen gefüllt ist. Es ist wichtig, zu betonen, dass diese Mütter ihre Kinder lieben, aber sich nicht mit der Rolle als Mutter identifizieren können. Dabei liegt das oft an dem gesellschaftlichen Druck und an gesellschaftlichen Erwartungen, wie eine „gute Mutter“ zu sein hat, und an anderen strukturellen Bedingungen, die zu der benannten Doppelbelastung führt. Es wäre daher wichtig, offen über „Regretting Motherhood“ zu sprechen und darüber, was hinter den Gefühlen dieser Frauen steckt. Dabei sollte der Fokus auf der gerechteren Verteilung von Care-Arbeit und strukturellen Veränderungen liegen, die auch Väter stärker einbeziehen und eine bessere Kinderbetreuung sowie weniger Druck für Mütter schaffen. Die klassische Rollenverteilung muss hinterfragt werden, um Frauen nach der Geburt die Freiheit zu geben, ihre Rolle selbstbestimmt, ohne äußeren Erwartungsdruck, zu gestalten.
Frauen, die sich bewusst für ein kinderfreies Leben entscheiden, müssen sich oftmals ungläubige Fragen anhören. Eher als Männer. Das Mutterwerden wird hingegen nicht in Frage gestellt, obwohl es eine viel gravierendere und tiefgreifendere Entscheidung ist. Woran liegt das Ihrer Meinung nach und sollte sich das ändern?
Ich denke, die Gesellschaft ist nach wie vor stark von traditionellen Rollenbildern geprägt, in denen Frauen stärker mit Kinderkriegen und Erziehung in Verbindung gebracht werden. Mutterschaft wird oft als etwas Natürliches für Frauen angesehen. Männer hingegen müssen sich solchen Fragen seltener stellen. Das sollte sich meiner Meinung nach ändern. Alle Menschen sollten sich frei für oder gegen Kinder entscheiden dürfen, ohne dass diese Entscheidung in Frage gestellt wird. Wir brauchen mehr Akzeptanz für unterschiedliche Lebensentwürfe und eine kritischere Auseinandersetzung mit unseren Rollenbildern.
Was macht Ihrer Ansicht nach eine gute Mutter aus?
Dazu möchte ich keine Aussage treffen. Wie bereits gesagt, gibt es schon genug Erwartungen an Mütter, und ich möchte mich nicht daran anschließen oder neue Erwartungen schaffen. Jeder und jede sollte für sich selbst herausfinden, wie die Rolle als Elternteil ausgestaltet werden soll. Männer werden ja auch nicht ständig gefragt, was einen guten Vater ausmacht.







