Was die Jugendlichen da machen, erinnert fast ein bisschen an die alte Fernsehshow „Ruck Zuck“. Die Jungen und Mädchen stehen hintereinander in einer Reihe und ganz hinten wartet Lehrer Thomas Opitz-Plotzki darauf, dass alle bereit sind. Dann tippt er seinem Vordermann auf die Schulter, damit dieser sich zu ihm umdreht.
Anders als bei „Ruck Zuck“ umschreibt Opitz-Plotzki aber keinen Begriff, sondern formuliert einen ganzen Satz: „Tut dein Bauch noch weh?“. Dass die anderen Mitspieler, die weiter vorne warten, keine Kopfhörer tragen, so wie früher die Kandidaten in der Spielshow, ist egal. Denn Opitz-Plotzki gibt seinen Satz lautlos weiter: per Gebärdensprache.
Gebärdensprache als Pflichtfach
Der Reihe nach sollen die Schüler den kurzen Satz weitergeben. Gar nicht einfach: Aus dem schmerzenden Bauch wird schnell ein hungriger Bauch. Es passiert das gleiche, was auch beim Stille Post spielen fast immer passiert: Am Ende der Kette kommt etwas völlig anderes heraus, als ursprünglich gedacht.
Die Grund- und Oberschulkinder der Schule an der Marcusallee werden das Spiel vermutlich bald mit Bravour meistern. Denn sie alle lernen seit diesem Schuljahr im Unterricht die Gebärdensprache. Als Pflichtfach.
Alle Kinder sollen miteinander reden können
„Die Kinder sollen miteinander sprechen können“, erklärt Schulleiter Thomas Hohenhinnebusch. Das ist an der Horner Schule nämlich ansonsten manchmal gar nicht so einfach. Sie wird von 89 Schülern besucht, die hörgeschädigt, also gehörlos oder schwerhörig, sind.
„Die Spannbreite ist groß. Schwerhörigkeit kann heißen, dass Betroffene nur sehr leise hören oder auch dass sie bestimmte Frequenzen, wie etwa ein scharfes s nicht wahrnehmen können“, erklärt Hohenhinnebusch. „Und auch gehörlos ist nicht gleich gehörlos.“ So gibt es zum Beispiel an der Schule Kinder, die taub sind, während andere mit einem Cochlea-Implantat wieder hören gelernt haben.
Diskussionen um beste Kommunikationsform
Mittels Gebärdensprache sollen sich künftig an der Marcusallee alle unterhalten können, unabhängig davon ob, ob sie gar nichts oder nur wenig hören. Bisher hat nur ein Teil der Kinder die Sprache gelernt. Denn innerhalb der Gehörlosenszene ist nicht ganz unumstritten, welcher Kommunikationsweg der richtige ist. Zum einen hat die Gebärdensprache eine lange Kultur und Tradition, zum anderen können aber auch gehörlose Menschen lernen, mit ihrer Stimme zu sprechen.
Der gehörlose Lehrer Thomas Opitz-Plotzki zum Beispiel kann beides: mit den Händen und mit dem Mund reden, auch wenn er dabei etwas anders klingt als hörende Menschen. Welche Kommunikationsform für welchen Schüler geeigneter ist, wolle man an der Schule an der Marcusallee gar nicht bewerten, betont Hohenhinnebusch. „Wir haben uns lediglich für eine gemeinsame Kommunikationsbasis entschieden.“
Echtes Fach mit Arbeiten und Noten
Viele Schüler hätten ohnehin schon auf dem Schulhof Gebärden aufgeschnappt. Der Unterricht solle sicherstellen, dass sie die Sprache auch richtig benutzen. Deshalb müssen sie genauso wie in allen anderen Fächern auch, Arbeiten schreiben – und Noten gibt es auch.
Der Bremer Landesverband der Gehörlosen lobt die Schule für ihr neues Unterrichtsfach. „Dieser Beschluss ist von großer Bedeutung, denn trotz des Schulangebotes für gehörlose Kinder sah die Realität in der Vergangenheit teilweise so aus, dass schwerhörige Kinder oder andere Schüler, die nicht selbst von starker oder voller Hörschädigung betroffen sind, keine Kompetenz in der Gebärdensprache hatten“, so Sprecher Patrick George.
Lob vom Landesverband der Gehörlosen
Ebenso sei Kindern aus hörenden Familien, die über keinen Background in der Welt der Gehörlosen verfügten, das Thema Gehörlosenkultur und Hörgeschädigtenkunde oft völlig fremd geblieben.
„Der Fortschritt bei den Schülern ist ganz unterschiedlich, genauso wie bei anderen Fremdsprachen“, sagt Thomas Opitz-Plotzki. Gerade für einige Schüler in der Pubertät sei die neue Sprache eine echte Herausforderung. „Schließlich braucht man beim Gebärden intensiven Blickkontakt“, erzählt er augenzwinkernd.