Kai Sender Foto: privat |
Mit 48 Jahren stand Kai Sender aus Bremen-Blumenthal vor den Scherben seines Lebens – zum zweiten Mal. Er hat es geschafft, seine Spielsucht zu überwinden und gemeinsam mit seiner Frau ein Tagebuch veröffentlicht. Damit möchte das Paar anderen Erkrankten – und ihren Angehörigen – helfen.
Kai Sender hat seit fünf Jahren nicht mehr gespielt – er ist „spielfrei“. Er vermeidet es, sich sogenannten Schlüsselreizen auszusetzen. Eine Therapie hat Sender aus seiner Sucht hinaus geholfen, die Aufarbeitung dessen, was sein Verhalten auslöste, ist jedoch bis heute nicht vollständig abgeschlossen: Sender war nicht nur spielsüchtig, sondern ist auch trockener Alkoholiker.
Seit 21 Jahren hat er keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt. „Ich hatte diese Sucht nie aufgearbeitet und so fand eine Suchtverlagerung statt“, sagt Sender. Er wusste damals, dass das Risiko, in eine zweite Sucht zu rutschen, enorm groß ist. „Ich habe meine Wachsamkeit weggeworfen und fing mit dem Onlinepoker an. Es war eine Flucht“, so Sender weiter.
Mit „Instant-Glück“ vor negativen Gefühlen fliehen
Heute weiß der 53-Jährige, warum er gleich zweimal kurz vor dem Abgrund stand: „Ich bin in einer Sekte groß geworden und habe nie gelernt, mit Gefühlen wie Angst oder Ärger umzugehen. Solche Dinge wurden verdrängt. Wenn es mir schlecht ging, konnte ich mich in die Sucht flüchten. Dort war alles gut.“
Seine Droge nennt Sender heute rückblickend sein „Instant-Glück“. Drei Jahre lang pokerte der Selbstständige jeden Tag – immer den großen Gewinn vor Augen. „Ich habe ein großes Lügengebilde um mich herum aufgebaut. Wenn ich ins Büro ging, habe ich nichts anderes mehr getan, als zu pokern. Vor fünf Jahren dann wurde mir plötzlich bewusst, dass ich es niemals schaffen würde, die Verluste wieder zurück zu gewinnen“, so Sender weiter.
Er sah zum ersten Mal seit langem klar, was er angerichtet hatte. In seiner Verzweiflung setzten sich Suizid-Pläne in seinen Gedanken fest. „Eines Tages habe ich meiner Frau alles gebeichtet und wir sind in die Klinik gefahren. Die Ärztin wies mich sofort auf die geschlossene psychiatrische Abteilung ein. Meine Frau sagte damals: ‚Mir wäre es lieber gewesen, du hättest wieder getrunken. Dann hätte ich es gemerkt‘.“
Vier Grundsätze konsequent verfolgen
Er fing an, sein Leben neu zu ordnen und aufzubauen. Dazu gehörte Ehrlichkeit. Er erzählte seiner Frau die Wahrheit und begann eine stationäre Therapie, um der Ursache seines Verhaltens auf die Spur zu kommen. Heute lebt Sender nach vier Grundsätzen: Gefühle wahrnehmen, sie annehmen, darüber sprechen und vor allem Gefühle zeigen. „Süchtige müssen sich selbst gestatten, auch mal schlechte Laune zu haben oder traurig zu sein. Man muss lernen, so etwas auszuhalten.“
Bevor Sender die Therapie begann, wollte er sich informieren. „Ich fand keine Erfahrungsberichte, also entschied ich mich, ein Online-Tagebuch zu schreiben, um auch mir selbst damit zu helfen“, sagt er. Die Idee, seine Texte zu veröffentlichen, setzte sich fest: „Dabei wollte ich auch die Situation der Angehörigen sichtbar machen. Meine Frau und ich sprachen inzwischen offen über alles und sie schilderte mir, wie es ihr während der ganzen Zeit ging. Die Erinnerung an diese Zeit ist die Hölle.“
Sucht als Existenzbedrohung – auch für Angehörige
Es entstand das Buch „Suchtbericht.de“, ein Tagebuch aus zwei Perspektiven. Gisela Sender beschreibt darin ihre Ohnmacht und den Weg zurück in ein normales Leben – als Angehörige. „Die Sucht ist eine existenzbedrohende Krankheit, sie gefährdet auch das Leben der Familie. Angehörige müssen aufpassen, nicht koabhängig zu werden und auch an sich selbst denken“, fasst Sender zusammen. Mit einer Einladung zur Tagung des Fachverbands Glücksspielsucht konnte Sender das Buch auch der Fachwelt präsentieren.
Anderen zu helfen, gleich ob Süchtigen oder Angehörigen, sei für ihn selbst eine Hilfe, sagt er. „Die Sucht ist ein Teil von mir, auch wenn ich ihn nicht mag. Ich schäme mich nicht mehr dafür und mir ist bewusst, dass ich jederzeit, noch heute Abend, wieder rückfällig werden kann. Ich bin wieder wachsam.“
Das Buch „Suchtbericht.de“ von Kai und Gisela Sender (ISBN 978-3-7386-3087-9) kostet 24,50 Euro und ist im Handel erhältlich. Über die Selbsthilfegruppe „Gemeinsam gegen Glücksspielsucht“ kann man Kai Sender auch persönlich kontaktieren.