„„Es war einmal eine kleine süße Dirne, die hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter, die wusste gar nicht, was sie alles dem Kinde geben sollte. Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen von rotem Sammet, und weil ihm das so wohl stand, und es nichts anderes mehr tragen wollte, hieß es nur das Rotkäppchen…“
„Rotkäppchen“ ist das Lieblingsmärchen von Lore Giesen-Wiche, die im Südschwarzwald aufgewachsen ist, inmitten einer märchenhaften Landschaft. „Am liebsten erzähle ich diese Ge-schichte in dem alemannischen Dialekt meiner Heimat, auch hier in Delmenhorst. Und mein Publikum liebt diese Sprache. Das erinnert mich an meinen Urlaub im Schwarzwald meinte einmal eine Zuhörerin,“ verrät die 68-jährige.
145 Märchen im Kopf abgespeichert
Das traditionelle Erzählen von Märchen war einst wichtiger Bestandteil des Gemeinschaftslebens, seit 2012 führt die ehemalige Lehrerin diese Tradition fort. Sie leitet den Delmenhorster Märchenkreis und trifft sich immer am vierten Mittwoch im Monat (außer in den Ferien), um 18.15 Uhr im Treffpunkt Deichhorst an der Kantstraße 40 mit anderen Erwachsenen, um ihnen Märchen zu erzählen und mit ihnen darüber zu sprechen. „Gelegentlich bringt auch außer mir mal jemand ein Märchen mit. Es ist wunderbar, wenn wir dann alle gelöst und glücklich nach Hause gehen“, erzählt sie.
Seitdem Lore Giesen-Wiche ihre Liebe zu Märchen wiederentdeckt hat, lernte sie über die europäische Märchengesellschaft hunderte von Texten aus dem In- und Ausland kennen. Zirka 145 davon hat sie im Kopf abgespeichert. Die Geschichten sind fünf bis knapp 30 Minuten lang und werden von ihr frei und sehr lebendig erzählt. 2016 wurde sie in die Gilde der Märchenerzähler aufgenommen.
Die Grimmsche Märchensprache
Im Repertoire von Lore Giesen-Wiche befinden sich Erzählungen aus aller Welt. Aber ihre besondere Liebe gilt den Märchen der Brüder Grimm, von denen sie 40 im Repertoire hat. „Von der Grimm’schen Märchensprache geht ein ganz besonderen Zauber aus“, erzählt sie und fügt hinzu: „Ich war schon immer ein wenig sprachverliebt und gerade in der Grimm’schen Sammlung gibt es wahre Sprachkunstwerke.“
Bevor die 68-Jährige einen neuen oder wiederentdeckten Text öffentlich erzählt, muss sie ganz in die Geschichte eintauchen. Das beansprucht viel Zeit und ist eine sehr intensive Arbeit.
Doch nicht nur im Märchenkreis teilt sie ihre Liebe zur Literatur mit Gleichgesinnten. In den vergangenen Jahren hat sie viel in geschlossenen Gesellschaften, vorwiegend vor Senioren, erzählt. Zwei- oder dreimal im Jahr lädt sie zu öffentlichen Erzählabenden mit musikalischer Begleitung ein. Außerdem macht sie seit 2011 regelmäßig Benefizveranstaltungen für terre des hommes, meistens in der Kirchengemeinde St. Marien. Seit 2012 hat sie etwa 180 kleinere und größere Veranstaltungen absolviert.
Möglichst viele Sinne ansprechen
Lore Giesen-Wiche engagiert sich auch bei in der Tagesförderung der Delme-Werkstätten in Ganderkesee. Dort werden Menschen betreut, die einen hohen Unterstützungsbedarf haben. „Anfangs hatte ich etwas Scheu im Umgang mit ihnen, aber es hat sich schnell herausgestellt, dass das lebendige Erzählen von Märchen auch hier seinen Zauber entfaltet“, berichtet Lore Giesen-Wiche. Mit diesen Zuhörern arbeitet sie jedoch ganzheitlicher als sonst, um möglichst viele Sinne anzusprechen. Sie bringt außerdem hörbare, fühl- und greifbare Dinge mit. „Für das Märchen von Frau Holle habe ich beispielsweise zur Verdeutlichung Watte und Federn schweben und schneien lassen,“ sagt sie.
Die Delmenhorsterin freute sich sehr darüber, als 2016 das Märchenerzählen als Immaterielles Kulturerbe in das Verzeichnis der deutschen UNESCO-Kommission aufgenommen wurde. Für sie ist das Gemeinsame an Märchen, dass sie Grundwahrheiten über das Menschsein enthalten. „Das Faszinierende an ihnen ist ihre Vielschichtigkeit. Man hört die erzählte Handlung, man sieht die erzählten Bilder in seiner Fantasie und spürt die Emotionen“, sagt die 68-jährige. Mehr findet man online unter www.maerchen-baum.de.
Lebhafte Erzählweise
Nun sind Sie gefragt: Sind Sie in der Kulturszene aktiv oder kennen jemanden, der vorgestellt werden sollte? Wir freuen uns über Vorschläge (Stichwort „Kultur-Reihe“) per Post an DELME REPORT, Oldenburger Straße 21, 27753 Delmenhorst oder per E-Mail an: redaktion@delmereport.de.