Er verstehe sich als Generalist, sagte Gregor Gysi Donnerstagabend im Hotel Tivoli. Das seien diejenigen, die von sich sagten, von Details hätten sie zwar keine Ahnung, fuhr der einstige Chef der Linkspartei fort. Und hält dieser vom Aussterben bedrohten Gattung zugute, dass sie eine Sache vom Grundatz her aufnähmen und verständen. Noch dazu seien sie in der Lage, Strukturen zu deuten. Somit sind sie unentbehrlich.
Vielleicht liegt in dieser Selbstbeschreibung die Beliebtheit von Gregor Gysi über die Parteigrenzen hinweg begründet. Überhaupt verlangt er von den Politikern jeder Couleur, sich endlich verständlich auszudrücken. Gerne mit Anekdoten aus seinem politischen Leben, die Veranstaltung soll ja auch Werbung machen für den Absatz seiner Memoiren. Ute Gartmann von der „Schatulle“ hatte einen Büchertisch aufgebaut und bot das Gysi-Buch feil.
Auch Kritikern geht Gysi nicht aus dem Weg
Der früher in der DDR als Rechtsanwalt tätige Bundestagsabgeordnete, einstiges Mitglied der SED, der PDS und heute der Linkspartei war einer Einladung seines ehemaligen Fraktionskollegen Herbert Behrens nach Osterholz-Scharmbeck gefolgt. Von drei Fragestellern wurde Gysi vor rund 200 Besuchern im Tivoli interviewt. Die machte der 70-Jährige aber zu reinen Statisten, als Redner gefällt er sich so gut, dass er ohnehin weiß, was er zu sagen hat. Applaus wechselte sich mit Freudenausbrüchen ab, das bestärkte Gysi, drauflos zu plaudern. Selbst Zwischenrufer, die das frühere SED-Regime geißelten, konterte er geschickt, ja, die Linke habe sich noch immer nicht vom „historischen Versagen“ des Staatssozialismus erholt. Es gelte, die Geschichte aufzuarbeiten und neue Glaubwürdigkeit zu erlangen.
Der Kapitalismus sei aus dem Ost-West-Konflikt übrigens nicht als Sieger hervorgegangen, er sei nach dem Verschwinden des Sozialismus bloß als einzige Gesellschaftsform übriggeblieben.
Gysi will den Kapitalismus überwinden
Für Gysi kommt es weiterhin darauf an, eine Mehrheit für eine Transformation dieses Systems zu finden. Der Kapitalismus könne wohl effizient sein, eine Top-Forschung hervorbringen und sogar eine Top-Kultur. Was er nach Ansicht Gysis nicht kann: den Frieden sichern, auf Nachhaltigkeit setzen und für Chancengleichheit sorgen. Sein demokratischer Sozialismus müsse eine Vergesellschaft von Banken und Schlüsselindustrien durchsetzen, die keine reine Verstaatlichung sei: „Wir brauchen den Qualitätsdruck“, so Gysi über Wettbewerb, er favorisiere auch genossenschaftliche Organisationsformen. Den Linken schreibt er auch ins Stammbuch, dass sie genauso, wie sie Wahlen gewinnen wollen würden, Niederlagen und Abwahlen zu akzeptieren hätten.
Gysi wünscht sich dafür Gewerkschaften im Land, die wieder rebellischer auftreten, und will die Jugend mobilisieren. Für die lohne es sich auch, an der Europäischen Union festzuahlten. Die sei zwar in weiten Zügen unsozial, unsolidarisch und undemokratisch, aber ihr Bestand würde den Frieden untereinander sichern, eine Rückkehr zu Nationalstaaten, Grenzkontrolen und Zöllen müsse verhindert werden. Linke dürften nicht bloß an der Seite der Armen ihres eigenen Landes stehen, sie müssen erkennen, wann Politik hierzulande zulasten der Armen in der ganzen Welt betrieben werde.
Nach über zwei Stunden Diskussion, nach den drei Talkrunden wurde auch das Publikum zu Fragen eingeladen, nahm sich Gregor Gysi noch Zeit für Autogrammwünsche und schrieb Widmungen in seine Bücher.