Thomas Bretschneider (r.) und Jessica Volk sprechen über die Zukunft des Martinsclub Bremen. Foto: Meister Thomas Bretschneider (l.) arbeitet seit 1993 beim Martinsclub Bremen, seit 2015 ist er dessen Vorstand. Jessica Volk (r.) ist Mitglied der Geschäftsleitung.Foto: Meister
50 Jahre

„Es muss und es wird sich verändern“

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Im Interview sprechen Thomas Bretschneider und Jessica Volk über die Zukunft des Martinsclubs Bremen e.V.

Weser Report: Frau Volk, Herr Bretschneider, der Martinsclub feiert in diesem Jahr sein 50-jähriges Bestehen. Heute setzt der Verein auf inklusive und dezentrale Angebote. Wie bewerten sie die Arbeit des vergangenen halben Jahrhunderts?

Jessica Volk: Wir sind sehr zufrieden mit dem Weg. Wir hatten gewisse Annahmen, wie sich die Behindertenhilfe und auch deren Finanzierung entwickelt. Und wir wissen, wie wir Inklusion mitgestalten wollen. Das war der Grund, weshalb wir seit etwa 15 Jahren so konsequent in die Dezentralisierung gegangen sind. Wir sind stark gewachsen, die Wege wurden immer länger, sodass wir wieder mehr Nähe zu den Menschen brauchten. Wir wussten auch gar nicht mehr so genau, was eigentlich der Bedarf in den Quartieren ist.

Wir haben eine neue Leitungsebene mit den Regionalleitungen eingeführt. Sie haben das Wohl und Weh ihres Quartiers im Auge. Auch Eltern, Angehörige und Nachbarschaften sind nun ganz anders eingebunden. Im Sinne der Inklusion sind wir mittendrin, genauso wie die Menschen, die wir begleiten und betreuen. Wir sind natürlich trotzdem nicht in einem idealtypischen Zustand. Es gibt keine Blaupause. Vielen Mitarbeitenden kommen die neuen Strukturen entgegen, wir haben aber auch manche verloren auf diesem Weg.

Thomas Bretschneider: Wir wollen in der nächsten Zeit noch zwei Wohneinrichtungen zu Quartierwohnen machen. Immer wenn wir eine solche Umstrukturierung umsetzen, bekommen wir eine ganz neue Mitarbeiterzusammensetzung. Manche kommen neu hinzu, für andere ist es nicht das passende Modell. Sie können dann aber in andere Bereiche des Martinsclub wechseln. Das ist ein recht normaler Vorgang. Die Menschen mit Beeinträchtigung meistern den Schritt meist sehr gut. Von daher ist unser Weg klar, auch über Bremen hinaus.

Wie begegnen Sie dem Fachkräftemangel?

Volk: Der Fachkräftemangel treibt uns genauso um wie alle anderen Unternehmen. Wir haben erahnt, was da auf uns zukommt. Corona hat das aber nochmal befeuert. Wir bilden schon seit vielen Jahren selber aus. Das war eine ganz bewusste Entscheidung und wir finanzieren das selber. Die Leute, die wir ausbilden, durchlaufen nahezu alle Bereiche und haben die freie Wahl. Damit haben wir extrem gute Erfahrungen gemacht. Unsere Übernahmequote liegt bei über 80 Prozent. Und wir wollen Mitarbeiter halten. Das machen wir auch mit Benefits, außerdem Fortbildungen und Nachwuchskräfteförderungen.

Relativ neu ist auch die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung. Denn obwohl wir Inklusion leben, sind wir in diesem Bereich noch relativ unbedarft. Menschen mit Behinderung wollen auf den ersten Arbeitsmarkt und nicht nur in Werkstätten arbeiten. Wir schauen, wo die Potenziale sind und wie wir die Menschen einsetzen können. Da geht es nicht um Hilfskräfte. Eine weitere Zielgruppe sind Menschen mit Migrationserfahrung. Bei uns arbeiten schon viele unterschiedliche Nationalitäten. Wir müssen aber noch kultursensibler werden und ausländische Bildungsgänge müssen anerkannt werden, zum Beispiel mit berufsbegleitender Qualifizierung. Da muss Bremen sich auf den Weg machen.

Was planen Sie für die Veränderung der Wohnformen in Zukunft noch?

Bretschneider: Wir arbeiten ganz eng mit den Wohnungsbaugesellschaften zusammen. In den Wohnangeboten übernehmen wir eigentlich nur den zentralen Bereich. Dort ist in der Regel auch eine Wohngruppe für vier Personen mit komplexem Hilfebedarf. Im Umkreis von 500 Metern sind Wohnungen, deren Bewohner ihre Betreuung von der Zentrale aus erhalten. Das haben wir vier mal in Bremen. Vier weitere sind in Planung: in Bremen-Nord, am Werdersee, in der Vahr und in Gröpelingen. Dafür werden wir schon jetzt überrannt. Außerdem sind wir auch in Syke angefragt worden und weiten uns nach Osterholz-Scharmbeck aus.

Volk: Aus finanzieller Sicht würden wir besser dastehen, wenn wir die Wohnheime aufrecht erhalten würden. Trotzdem haben wir die Entscheidung für die Ambulantisierung getroffen, weil es um Inklusion geht. Wir sehen, wie gut das in den Quartieren funktioniert, das treibt uns an. Die Menschen haben dort Bezüge und kennen sich aus. Es gibt noch eine Reihe an Projekten: Wohnen und Pflege zum Beispiel. Auch die inklusive WG können wir uns nochmal vorstellen.

Ihr Motto lautet „Menschlich, Mutig, Mittendrin“: Ist mit Mut auch der Weg gemeint, den der Martinsclub eingeschlagen hat?

Bretschneider: Ja. Wir nehmen uns beispielsweise jetzt den Bereich Arbeit vor, weil wir vor allem während der Pandemie gesehen haben, wie sich alle zurück gezogen haben. Die Situation wurde für behinderte Menschen nochmal verstärkt. Das können wir so nicht machen. Wir brauchen einen Markt, wo Menschen mit Behinderung in einem ganz normalen Arbeitsverhältnis angestellt sein können. Wir müssen da ran, haben aber auch extrem viel Widerstand von allen Seiten. Es soll sich nichts verändern. Das muss es aber und es wird sich verändern.

Volk: Wir wollen Firmen finden, die auf diese Thematik Lust haben. Das hört sich so leicht an. Es steckt aber auf beiden Seiten viel Arbeit dahinter. Wir wollen die Firmen und die Personen zusammen bringen und dabei unterstützen. Wir wollen in den nächsten zehn Jahren selber zehn Prozent Menschen mit Behinderung beschäftigen. Das Thema Mut meint aber auch, dass wir nicht klassische Behindertenhilfe machen, sondern immer in Kooperationen denken. Der Mehrwert entsteht aus dem Zusammenschluss. Das ist ein Bereich, in dem es viel zu tun gibt und den wir anpacken.

50 Jahre

Der Martinsclub Bremen e.V. entstand als Elternverein des Martinshofs. Es entstanden zahlreiche inklusive Freizeitangebote. Am 6. Februar 1973 wurde der Martinsclub Bremen e.V. offiziell gegründet und vom Martinshof getrennt.

Heute arbeiten 1.200 Menschen unter anderem in den Bereichen Schule, Wohnen, Freizeit, Jugendhilfe und Pflege für den Martins­club, der damit einer der größten Behindertenhilfeträger Bremens ist.

2023 feiert er mit 50 Aktionen an 50 Orten sein Jubiläumsjahr, darunter eine Ausstellung, ein Festival sowie eine Jobmesse für Menschen mit Behinderung.

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