„Andezogen“ statt „angezogen“ und „pielen“ statt „spielen“. Haben immer mehr Kinder in Bremen eine Sprachstörung und benötigen eine logopädische Therapie?
Zahlen der Krankenkassen Barmer und KKH legen dies nahe. So sollen laut Barmer Kinderatlas 2023 im Jahr 2021 4.400 Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren in Bremen eine Entwicklungsstörung des Sprechens und der Sprache gezeigt haben (2006: 2.700).
Die Kaufmännische Krankenkasse KKH spricht von bundesweit fast neun Prozent der sechs- bis 18-Jährigen.
Zum Vergleich: Unter den Versicherten der Handelskrankenkasse (HKK) ist ein solcher Trend nicht zu erkennen. Lediglich bei den Drei- bis Fünfjährigen in Bremen stieg der Anteil von 2020 auf 2023 um 1,02 Prozentpunkte. Eine Altersgruppe, in der typischerweise im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen und über den Cito-Test eine Sprachstandsfeststellung vorgenommen wird.
Smartphones und Pandemie als Treiber
Als Grund für die steigenden Zahlen vermuten Barmer und KKH vermehrten Medienkonsum sowie die Coronapandemie mit verdeckten Gesichtern. Tatsächlich werde aber nicht genug zwischen Sprachdefizit und Sprachstörung differenziert, wie Kinderarzt Marco Heuerding und Wiebke Scharff Rethfeldt, Studiengangsleiterin an der Hochschule Bremen im Bereich Angewandte Therapiewissenschaften aufzeigen.
„Es gibt nicht mehr Kinder mit einer Sprachstörung als noch vor einigen Jahren“, sagt Heuerding. Dagegen sei die Zahl der Kinder mit Sprachstandsdefizit tatsächlich gestiegen.
„Die Kommunikation mit den Eltern hat einen erheblichen Einfluss auf das Sprachvermögen und das Sprachverständnis. Jede Stunde, die ein Kind vor dem Fernseher sitzt, ist eine Stunde, in der nicht mit ihm kommuniziert wird“, sagt Heuerding.
Scharff Rethfeldt ergänzt: „Es sind vielmehr auch Smartphones in den Händen der Eltern, die zu diesem Ergebnis führen.“
Mehrsprachigkeit ist positiv
Die Hochschulprofessorin forscht zu Sprachentwicklungsstörungen. Auch den oft genannten Migrationshintergrund als Ursache schließen beide aus: „Mehrsprachigkeit wirkt sich positiv auf Sprachentwicklung und das Verständnis aus. Wenn Eltern aber schlecht Deutsch sprechen, sollten sie mit den Kindern lieber die eigene Muttersprache sprechen“, sagt Scharff Rethfeldt.
Heuerding und seine Kollegen überweisen inzwischen mehr Kinder an logopädische Praxen als noch vor einigen Jahren, was Scharff Rethfeldt mit ihrer Forschung belegen kann.
„Diese medizinische Leistung gleicht dann die Sprachstandsdefizite aus. Das ist aber nicht richtig. Die Kinder brauchen eine Förderung, keine Therapie“, sagt der Mediziner.
Zu wenig Logopädie-Plätze
Und genau das sei ein großes Problem, bestätigt die Professorin, denn diese Logopädieplätze fehlen für die Kinder, die eine klinische und diagnostisch belegte Beeinträchtigung haben.
„Den Kindern mit Sprachdefizit wird dort natürlich auch geholfen, aber sie brauchen vielmehr ein pädagogisches Angebot. Sprachstandsfeststellung ist keine Sprachdiagnostik“, sagt Scharff Rethfeld.
Zudem gebe es zu wenig logopädische Therapieplätze sagt sie und fordert, dass eine Sprachdiagnostik über die Logopäden erfolgen sollte.
Operationen schlecht vergütet
Ein weiteres Problem: Notwendige Operationen wie das Einsetzen von Paukenröhrchen zur Belüftung des Mittelohrs werden seltener durchgeführt.
„Wir können heute schon früh feststellen, ob ein Kind schlecht hört. Sprache kann man nur erwerben, wenn man sie auch hört. Eltern sind aber zu wenig darüber aufgeklärt“, bemängelt Scharff Rethfeldt.
Und: „HNO-Ärzte boykottieren die Standard-Operationen bei Kindern seit gut einem Jahr, weil sie von den Krankenkassen nicht angemessen vergütet werden“, erklärt die Professorin und spielt damit den Ball zurück an die Kassen.
Diese würden selber dafür sorgen, dass sprachgesunde Kinder, die beispielsweise wegen vergrößerter Rachenmandeln und den Folgen vermindert hören, Sprachdefizite entwickeln, die dann behandelt werden müssen.
„Wir können jetzt schon prognostizieren, dass als eine direkte Folge in Zukunft mehr Kinder in den Schulen unter Legasthenie leiden“, erklärt Scharff Rethfeldt. Und: „Diesen Kindern hätte man rechtzeitig mit entsprechenden Maßnahmen helfen können“.