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Familiengeschichte

Lange Suche nach der Wahrheit

Von
Nadia Lew erzählt ihre spannende Lebensgeschichte

Buchcover

„Vor ihrem Tod habe ich meiner bereits schwer kranken Mutter Vera versprochen, ihre Geschichte aufzuschreiben“ schreibt Nadia Lew im Vorwort ihres Buches „Meine kleine Schwalbe – Familiengeheimnisse und die lange Suche nach der Wahrheit“. Sie sucht und findet auf deren Dachboden Briefe, Postkarten und Notizen. Die lässt die in Sydney lebende Frau aus dem Russischen ins Englische übersetzen. Sie erfährt unter anderem von vier Cousins und weiteren Verwandten, deren Existenz ihr die Mutter bis zu jenem Tag konsequent verschwiegen hat.

Eine Suche nach der eigenen Geschichte

Nadia Lew entschließt sich kurzerhand zu einer Reise auf die Krim, um die neu entdeckten Verwandten vor Ort ausfindig zu machen. Das war im Jahr 2003. Auf der Suche nach der Biografie ihrer Mutter legt Nadia Lew tausende Kilometer zurück. Rund 20 Jahre dauert die abenteuerliche Recherche und führt von der Krim ins alte Oldenburger Land, weiter nach Frankreich, bis nach Australien. Es wird für Nadia Lew auch eine Reise zu ihren eigenen, bis dahin völlig unbekannten Wurzeln. Denn sie wuchs in dem Glauben auf, 1945 in Frankreich zur Welt gekommen und das Kind einer russischen Zwangsarbeiterin und eines französischen Kriegsgefangenen zu sein, die sich im Zweiten Weltkrieg auf einem Bauernhof in Norddeutschland kennenlernten und sich ineinander verliebten.

Während ihrer Recherchen trifft die Wahl-Australierin auf Mauern aus Schweigen, auf bürokratische Hindernisse aber auch auf zahlreiche Fremde, die sie herzlich aufnehmen und sie bei der schwierigen Detektivarbeit unterstützen. Vor ihrem ersten Besuch in Ganderkesee im Jahr 2019 nimmt Nadia Lew Kontakt mit der Gemeinde auf und bittet um Unterstützung. Die bekommt sie vom Orts- und Heimatverein sowie von Hauke Gruhn von der Gemeindeverwaltung. Gemeinsam besuchen sie Orte, an denen die Eltern lebten, und treffen sogar noch Zeitzeugen an.

Als Zwangsarbeiterin nach Deutschland deportiert

Vera wird 1924 in Simferol auf der Krim geboren. 1942 wird sie zusammen mit ihrer Mutter, ihrer Schwester und ihrem Bruder als Zwangsarbeiterin nach Deutschland deportiert. Vera verschlägt es kurz vor Kriegsende nach Schönemoor, wo auch der Franzose Joseph Hareau, ihr zukünftiger Ehemann und Nadias vermeintlicher Vater, als auch Yuri, ein Russe und der leibliche Vater von Nadia, als Zwangsarbeiter arbeiten. Doch Yuri lässt die werdende Mutter im Stich. Nadia wird in einem Deportierten-Lager im Oldenburger Stadtteil Ohmstede geboren.

Unverheiratet, mit Kind (möglicherweise vom Feind) kann Vera nicht nach Russland und zur streng gläubigen Familie zurückkehren. Zur Adoption will sie ihre Tochter ebenfalls nicht freigeben. Sie geht stattdessen nach Kriegsende mit Joseph in dessen französische Heimat. Das Mädchen wird als gemeinsame Tochter erklärt.

Der „kalte Krieg“ verhinderte ein Wiedersehen

Erst im Rahmen ihrer Ahnenforschung lernt Nadia Lew ihre Tante, die ebenfalls Nadia heißt, kennen. Die hatte nach Kriegsende vergeblich nach ihrer Schwester gesucht. Der „kalte Krieg“ verhinderte ein Wiedersehen. Schließlich weihte die Tante – entgegen ihrem 1945 geleisteten Schwur – ihre Nichte in das Familiengeheimnis ein, wer ihr leiblicher Vater war. Ein gewisser Yuri Bulgov. Schnell schaltete die Australierin eine Anzeige in russischsprachigen Lokalzeitungen: „Wer kennt einen Yuri Bulgov, Zwangsarbeiter in Deutschland von 1942 bis 1945?“ Und es meldete sich tatsächlich eine Frau. Eine DNA-Probe bestätigte: Es handelte sich um eine Halbschwester. Den gemeinsamen Vater konnte Nadia Lew dagegen nicht mehr kennenlernen. Er war 1989 verstorben.

Nadia Lew hat ihr Buch den Millionen von Zwangsarbeitern gewidmet, die ihrer Heimat entrissen und entwurzelt wurden. Viele kehrten nie in ihr Land zurück. „Die meisten dieser Geschichten werden unerzählt bleiben und vergessen. Dieses Buch ist eine Hymne, die zu ihrer Erinnerung gesungen wird“, sagt die Autorin. „Meine kleine Schwalbe – Familiengeheimnisse und die lange Suche nach der Wahrheit“ ist im Oldenburger Isensee-Verlag erschienen und im Buchhandel sowie auf den gängigen Onlineplattformen zum Preis von 29 Euro erhältlich. Hauke Gruhn half nicht nur bei der Recherche, er übersetzte es auch ins Deutsche.

Das Thema Zwangsarbeit aus einer sehr persönlichen Perspektive

„Das Buch behandelt das Thema Zwangsarbeit nicht mit Zahlen und Statistiken, sondern es ist eine Nahaufnahme aus einer sehr persönlichen Perspektive“, betonte der Ganderkeseer Bürgermeister Ralf Wessel bei der Buchvorstellung. Es mache sicher an einigen Stellen betroffen, aber es sei vor allem spannend zu lesen. „Die Autorin nimmt die Leser mit auf eine Reise zur Wahrheit über eine Familiengeschichte, die es so auf diesem Planeten wohl kaum ein zweites Mal gibt“, so Wessel. Das Buch enthält zahlreiche Fotos und Kartenmaterial. Eine große Leistung der Autorin ist es, die historischen Fakten, Quellen und Personen so zu editieren, dass sich der Leser nicht völlig in der Vielfalt des Materials verliert.

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